Ein Zimmer in Batavia

Sie: Jetzt sehe ich ihn, wie er wurde, als ich ihn verließ. Er sitzt in diesem Loch, einer Art Loft, und traut sich nicht raus. Sämtliche Balken biegen sich, es quietscht und stöhnt. Aus den Kanälen fließt kaum was nach. Der Turm muss verrotten, denn der Unterbau liegt frei. Der Mann kann sich nicht wirklich bewegen in der stürmischen Zeit. Keine Handbreit Wasser hat er noch unterm Kiel, ist eingeschlossen von der Flut der Zeit.

Er spürt die Dramatik der Geschichte in den Knochen. Ich wette, über Jahre hat er mit keiner Seele ein Wort gewechselt. Doch langsam ist der Satz zu ihm durchgedrungen: Du musst es annehmen. Sieben Werke der Barmherzigkeit will er noch tun. Auf Bildern, die ihm beim Anschauen Gefühle einflößen, entdeckt er diese Möglichkeit für sich. Vor den Gemälden hat er den Duft von Leinöl und geharzten Holzrahmen eingeatmet, das versetzt ihn beinahe in eine andere Welt. Er wird noch einmal aktiv werden und dann den Posten räumen.

Künstler. So nannten ihn einige. Dabei war er gar nicht in dem Metier tätig, war einfacher Maurer, als wir uns kennen lernten. Er schüttelte das jedoch ab und zog etwas Gewinnträchtigeres auf. Als Makler streifte er durchs Land, kaufte auf und verkaufte mit Erfolg, Komfortwohnungen, lichtdurchflutete Immobilien. Er schonte sich nicht, jede vage Möglichkeit erwog er so ausführlich, dass er in den Nächten meist wach lag. So habe ich ihn über drei Monate erlebt. Er erhoffte sich für uns eine Zukunft und ging den Dingen voller Elan nach.

Dann aber veränderten sich die Verhältnisse und seine Listen halfen ihm nicht weiter. Die Geschäfte entwickelten sich nicht, obwohl er tat, was er konnte. Vielleicht überkam ihn der Glaube, glauben bedeutet mehr als Wissen. Es war, als werfe ihm einer diese Erkenntnis wie einen Anker zu. Der Schlag saß. Er dachte: Mit profanen Dingen hast du dich genug beschäftigt. Da waren wir schon getrennte Leute.

Der Verkauf der Anwesen lief, soviel ich weiß, noch ein bisschen weiter, dann schienen sich die Projekte in Luft aufzulösen. Er selbst war verschwunden. Man munkelte, er würde sich dem bis dato Unerforschten widmen.

Man kann sein Projekt nicht mit demjenigen des unter Auftrag segelnden Columbus vergleichen. Mein früherer Freund entdeckte vielmehr dank der Spürnase, die er sich durch die selbstständig durchgeführten Maklergeschäfte erworben hatte, fast zufällig eine Insel, auf die noch kein Mensch den Fuß gesetzt hatte. Das Ländchen war nicht groß und doch konnte man es, wenn man wollte, als Kontinent für sich betrachten. Dort herrschten ganz eigene klimatische Verhältnisse. Die Insel lag im Ozean der südlichen Halbkugel. Ich weiß von ihr und höchstens noch drei weitere. Ich hoffe, dass die Bürokraten, die sich für sowas zuständig fühlen, die alles an sich reißen, nie etwas davon erfahren. Er hat nie an mich geschrieben. Er war unterwegs.

 

Er: Ich, der Mann im Turm, bin ganz auf meine Intuition angewiesen. Er bleibt cool, seine Gedanken springen, manchmal über den Rand seines Gesichtsfeldes. Er sagt sich: Obwohl ich mich immer noch im Norden befinde, verzweifle ich keineswegs, denn ich weiß, wie schnell sich die Dinge auf diesem Globus drehen.

Mein frisch entdeckter Kontinent bleibt unter meiner Kontrolle. Weil er für die anderen unsichtbar ist, kann nichts Fremdes dort anlanden. Muss nur ein Schiff erwischen, das in Richtung Süden fährt, dann finde ich hin, werde mir auf eigenem Grund und Boden die Hütte bauen, die meine Kunden immer wollten und nie bekommen haben.

Ich muss mich losmachen aus der alltäglichen Malaise. Wo ich jetzt festsitze, hat man Feuer mit Meerwasser zu löschen versucht. Zuerst wurde der Brand gar nicht bemerkt und konnte sich ungehindert bis ins Fleisch der Erde fressen. Dann öffneten die Rettungskräfte, ohne die Folgen zu bedenken, Kanäle, und eine Inundation, deren Ausmaße keiner beherrschte, riss vom Platz, was nicht niet- und nagelfest war. Kein Ding besitzt in dieser Gegend ein solides Fundament. Alles Mögliche trudelte vorbei: Kühlschränke, Kleiderschränke, Bierkrüge und ein Geflecht aus Kleiderbügeln, eine Kanzel.

Die künstliche Überflutung hatte höhere und mächtigere Wellen geschlagen, als man sich vorstellen konnte, unversehens schloss sie mich ein. Kälte breitet sich aus, Aberglaube, Sarkasmus. Ich rettete mich in die Höhe des Turms, wo ich zum Gefangenen wurde. Unter mir hat man einen Viehstall eingerichtet, das Geblöke ist nur schwer zu ertragen. Nicht nur der verheerende Brand ist an der Entwicklung schuld.

Folgendes erfuhr ich: Das Feuer nahm 1686 seinen Anfang. Verursacht haben es einige Blechner oder Klempner, die auf dem Dach der Basilika Lötarbeiten ausführten. Sie kamen von Middelburg herüber, es waren keine Ortsansässigen. Als man das Feuer entdeckte, hat man die Unglücklichen schnell fassen können und in Ketten gelegt. Dann nahm man sich, so gut es ging, der Feuersbrunst an.

Merk dir alles, so ging es mir durch den Kopf. Schreib eine Chronik. Kein schlechter Rat, denn Chroniken verkaufen sich gut. Zwei Jahre später wurden in der Kirchenruine wieder Messen gelesen, obwohl nicht viel mehr getan wurde, als einige Trümmer zur Seite zu räumen. Frauen hatten versucht, den Ruß abzuwaschen. Die schwarze Schmiere verteilte sich überall, und etwas Klebriges, Weißes drang aus der Erde. Da die Gemeinde über wenig Geld verfügte, erhielt man nur Teile der Mittel-und Seitenschiffe, das was noch senkrecht stand. Sehr kahl zeigte sich nun die Räumlichkeit. Zu festgesetzten Zeiten gestattete man den divergierenden Glaubensrichtungen, ihre Riten in der Ruine abzuhalten. Man wählte sich einen Pfarrer, der der zusammen gewürfelten Gemeinde vorstand. Die Apostolische Schlichtheit der Einrichtung war wohl den Calvinisten anzulasten. Bruchstücke der Kirche, darunter zerstückelte Grabplatten, fanden bei der Befestigung der Wehranlagen Verwendung.

Dem Bau wurde der Name “Unsere Liebe Frau im Schnee” verliehen. Noch jetzt passt das gut. Während in späteren Jahren der Neubau lief, wurden Quer- und Langhaus vom geplanten, aus Geldmangel nur stockend realisierten Chor getrennt, um weiterhin Gottesdienste abhalten zu können. Dann, als es der Stadt besser ging, wurden zehn Kanoniker eingestellt, die den fertigen Chor sofort für sich beanspruchten und unter anderem den Stundengebeten mit ihren Gesängen Glanz verliehen. Noch eine Zeit später überließ man die Kirche den Reformierten und der damalige Pfarrer konvertierte zum Protestantismus. Man hatte großzügig gebaut, so dass sich das Gebäude ohne weiteres in drei Bereiche aufteilen ließ. Es entstand Raum für die Versammlungen der Schotten, der Waals-Reformierten und der Lutheraner. Da die schottische Gemeinde noch keinen Pastor hatte, wurde der gesamte Chor zeitweise als Lager der Firma De Moucheron vermietet. Der geschäftige “de Moucheron”, dessen Ende nach seinem Bankrott in Nacht und Nebel liegt, hatte 1602 die “Veersche Kompanie” gegründet. Später nannte sie sich “Verenigte Oostindische Compagnie”.

Herrschaftzeiten, man kriegt Lust, einige Histörchen in Öl zu malen! Steckt irgendwo noch eine leere Leinwand? Ich brauche Beschäftigung, wenn es auf See geht. Die Rauhreif-Wiesen grüßen durch die Mauerlücken meines Turms. Unter den Steinen der Kirche aber scheint das verfluchte Hexenfeuer weiter zu glimmen. Lege ich die steifen Finger an die Mauern, beginnen sie zu vibrieren, tanzen vor meinen Augen und schmerzen. Nur weg von hier!

Das Schiff der Compagnie, welches mich in Kürze übersetzen soll, muss einen starken Bauch haben. In Gedanken inspiziere ich schon meine Unterkunft. Die Kogge, eine zeitgemäße Schiffschaukel, wird sich jeder Wetterlage anpassen. Bei hohem Wellengang überschlägt sie sich möglicherweise, richtet sich danach aber wieder auf. Bei so einem Überschlag kann der Bauch zum Tonnengewölbe werden, das ähnlich auf mich herabschaut wie auf einen Kirchenbesucher, mit hübschen Schlusssteinen, aufmerksamen Augen.

Napoleon, der aus der Kirche ein Krankenhaus mit drei Stockwerken machte, ließ ein zusätzliches Stockwerk einziehen. Ich kann die Anatomie anfassen, kann das Ohr an die fein geschnittenen Rippen des Daches legen. Man hat den Baumeistern versichert, dass das Holz der Decke beständig sei, doch es hat sich verzogen. Holz und Stein müssen den sauren Atem der hier zur Gesundung gebetteten Kranken und der vor sich hin Siechenden aufgesogen haben. Eine Schrumpfung, vor allem der Rippenbögen, ist eingetreten.

Einer der Fensterläden des Daches, die zur salzigen Luft hinaus führen, hat sich gelockert, ich kann den Kopf hindurch stecken. Der Wind verfärbt mein Gesicht, während ich schaue, über die feuchte Landschaft, die nassen Wiesen zum Meer. Will der Kopf sich drehen, knarren die Halswirbel wie die Bohlen unter meinen Füßen. Ich klettere ins Freie. Mein Hirn will Zeit überbrücken. Eine Schiffsglocke bimmelt, Schwalben kreisen und Möwen krächzen. Bin ich schon an Deck? Ich schreie: Legt ab. Meine Kogge aber kommt nicht los.

Schrecklich die Vorstellung, erneut gestrandet zu sein. Nur das nicht. Wieder stürmischer Regen. Die Sturmflut schwillt und rumort, angereichert mit Dingen. In der Nussschale ist es gefährlich, nur den Mund aufzumachen. Da nähern sich Tafeln aus Eichenholz, die an Scharnieren hängen, groß wie Tischplatten. Mit Leim und Kreide geglättet, können sie zu Bildträgern werden. Sie entfalten sich und zeigen ein bemerkenswertes Geschehen. Doch unter den Schlägen der Wellen reißt der Firnis, man sieht, die Tafeln sind brüchig. Jemand muss die Malereien zusammen halten.

Damals, als ich beim Bau des Kanals half, eine außerordentliche Unternehmung, welche die Handelsstadt an der Schelde auf direktem Weg mit dem Meer verbinden sollte, war ich jung. Meine Körperkraft wuchs mit jedem Tag. Ich hatte mich anwerben lassen, es hieß, der Kanal sei lebenswichtig für die Bewohner der Stadt. Der verzweigte, zwischen den Häusern mäandernde Fluss, in den sich als zusätzliche Verwirrung das Gewässerchen Rupel ergoss, mochte romantische Reize besitzen, für die Kaufleute waren seine vielen Windungen und wechselnden Tiefen überaus hinderlich.

Meine Muskeln und Sehnen entwickelten sich, wie ich es mir wünschte. In Hundertschaften schufteten wir Tag und Nacht. Eingereiht in einen Trupp, der schon über zwei Jahre beisammen war, gingen die Tage dahin. Ich schaute den Geübten den Vorteil ab und gab mein Bestes. Der Sommer war heiß, Essen und Trinken stellte man nicht üppig zur Verfügung. Gleichwohl, ich lebte und arbeitete im Glauben, der Menschheit einen Dienst zu tun.

In der Mittagspause stieg man aus dem Graben und bettete sich für ein halbes Stündchen ins Gras, hörte zu, was die Leute redeten, und die Zeit blühte etwas auf.

Wir arbeiteten uns ins Erdreich, kaum ein Sonnenfleck fand in die Tiefe. Dann kamen die Wintertage. Im Dezember, wenn ich mich für Augenblicke aufrichtete, mich auf die Schaufel stützte, spürte ich meine Hände nicht mehr. Der Grund des Kanals, verstellt von Stützen und Leitern, war ein Labyrinth von finsteren, löchrigen Kabinetten geworden, in denen wir bleichen Wachsfiguren agierten. Fuhre um Fuhre schickte man Steine zur Verkleidung der Wände herab. Die Männer an den Seilen schrien die Weisung: Mauert, was das Zeug hält! Der Vorarbeiter wollte ein Lied anstimmen, doch kaum einer brachte die Lippen auseinander. Und als es uns doch, nach einer Weile gelang, kam nur ein wenig kristalliger Rauch hervor.

In dieser Situation wünschte man sich ein Öfchen. So ein Kohlebecken, wie auf dem Bild von Caesar von Everdingen, genannt “Allegorie des Winters”. Das Becken selbst sieht man nicht auf dem Gemälde, doch man fühlt es. Es steht verdeckt von einer hockenden jungen Frau, die ihren Rock darüber gebreitet hat. Man möchte ihr am liebsten die roten Hände küssen. Und was für ein Zufall! An einem besonders bitteren Wintertag glaubte ich genau die eben beschriebene junge Frau, frisch angehaucht, in Natura zu sehen. Der triste braunschwarze Bildhintergrund verwandelte sich in die angenehm ausstaffierte Landschaft in Kanalnähe. Das Mädchen schritt an wohl proportionierten Häusern mit glänzenden Fensterfronten entlang. Sie schien mir eine fröhliche, ein wenig waghalsige Seele. Ich fragte mich, wohin sie so behende wollte, sah sie einen Treppengiebel hinauf tänzeln wie einen Vogel, hinauf ins Blaue, nein, selbstverständlich in eines der größten und hübschesten Häuser.

Da rotierte mein Kopf. Jeder, dachte ich, braucht eine angemessene Wohnstatt, doch nicht jeder hat den Blick und die Zeit, eine zu finden oder sich das zu bauen, was ihm zusagt. Ich stellte mir vor, das wäre eine Beschäftigung für mich, den Leuten, für eine Provision versteht sich, passende Heimstätten zu offerieren. Auch ich wünschte mir plötzlich ein Heim.

Der Kanalbau zog sich noch durch den ganzen Winter. Den Fiebernden und Hustenden am Grund entkam ich nicht. Einige, die bereits in den Spitälern lagen, kamen nie mehr zur Baustelle zurück. Ich hätte sie besuchen und ein Werk der Barmherzigkeit üben können, doch ich arbeitete nun so schnell, dass mir das Frösteln und das Denken verging. Nur so konnte ich den Frühling erleben. Ich wurde nicht krank, hatte Glück und sah das Fräulein wieder.

Es handelte sich wirklich um eine Städterin. Ein gewitztes, kleines Ding, wohl ihre Schwester, lief ihr voraus, führte ein Gänslein an der Leine und trieb es mit einem Stöckchen an. Hinter Steinen verborgen konnte ich die Schwestern näher betrachten. Die beiden waren schlau und bemerkten mich gleich. Das Gänschen watschelte zu einer Pfütze, seine Hüterin und mein Fräulein folgten ihm. Eine samtene Schnur verband Tier und Kind. Ich trat vor, ohne dass mir mein schäbiger, schmutziger Aufzug bewusst wurde. So begegneten wir uns zum ersten Mal.

Mit der “Nieuwe Vaart” ging es nun nicht mehr so mühselig voran. Im nächsten Frühjahr sollte der Wasserweg fertig werden. Nie ist wohl ein Jahr schneller vergangen.

Die Scheiterhaufen der überflüssig gewordenen Gerüste loderten, das hatten wir Arbeiter herbeigesehnt. Die aufgezogenen Fahnen konnte man kaum von den Flammen unterscheiden. Auch dass alle in Feierlaune waren, hatten wir uns gwünscht, den Lärm, das freudige Durcheinander, als der Durchstich zum Meer bevorstand. Eine ganze Woche sollte das Fest dauern.

Marie und ich spazierten zwischen Buden und Gauklern, beachteten keins der gezeigten Kunststücke. Ich sprach ein wenig von meinen Zukuntsplänen, dem Maklertum, und wagte ab und zu in ihr feines Gesicht zu schauen. Eine Bürgermeisterstochter aus Veere hatte ich mir angelacht. Manchmal nickte Marie. Worte hat sie kaum verloren, was ich ihr auch sagte, es schien ihr einzuleuchten.

Schon am nächsten Tag erkundigte ich mich nach vakanten Häusern und Grundstücken. Schon am Mittag war mein Geschäft gegründet, am Abend ein erster erfolgreicher Verkauf getätigt. In der Nacht aß ich mich satt, wie ichs lange nicht getan hatte.

Drei Tage zog keine Wolke auf. Wenn Tropfen fielen, regnete es direkt aus der Sonne. Am vierten Tag, an dem der Himmel von warmer Nässe überquoll, hatte ich gerade ein Haus mit Vorratskellern, Dachböden und Ställen verkauft und meine Stimmung war demgemäß rosig, da zeigte ich mich an der Küste, um den Höhepunkt der Festtage mitzuerleben. Heute würde man die Wasserstraße fluten. Von den Pappelreihen und Weiden flogen mir Blüten entgegen. Ich wusste, Marie, heute ganz in Grün, war unter den Gaffern.

Ich wollte mir alles aus der Nähe ansehen. Ebenso unermüdlich wie ich zuvor gegraben hatte, feuerte ich jetzt die armen Schlucker an, die im Namen Kaiser Karls die letzten Spatenstiche taten. Ich fühlte mich ihnen verbunden, obwohl ich nun, so nahm ich an, zum Establishment gehörte. Bald ziehe ich, der erfolgreiche Makler, ein Ass aus dem Ärmel, das wird auch die größten Bedenkenträger in Maries Entourage überzeugen, dachte ich. Denn noch versuchte die Familie der Tochter den Namen eines betuchten Bräutigams einzureden, der nicht der meine war. Ich glaubte bei ihr die besseren Karten zu haben. Sie winkte mir: Später, wart auf mich!

Die hohen Herrschaften hatten auf Plattformen mit Aussicht Platz genommen, ich konnte Marie lachen hören, trotz der schäumenden See, die mir ins Ohr brüllte, ich war voller Erwartung.

Welch geradlinige Straße bildete der Kanal! Er war tatsächlich zu der dringend nötigen Abkürzung zwischen Stadt und Welt geworden. Auf einem Bild van Eyks, “Die Madonna des Kanzlers Rolin”, mäandert die Schelde noch gemächlich durch Gent. Nur auf den ersten Blick wirkt der Transportweg gemütlich, der Handel verzögerte sich durch die umständlichen Schlaufen um viele Tage, heute kaum noch vorstellbar.

Furore machte van Eyck später mit einer anderen Malerei, dem Genter Altar. Dieser gefiel den Leuten so sehr, dass die Rhetorikerkammer ihn 1458 als “Lebendes Bild”, zu Ehren des Einzugs Philipps des Guten nachstellen wollte. Viele gut situierte Bürger zögerten, sich an dem Spektakel, der Darstellung des Weltgerichts, zu beteiligen, also brauchte man Statisten. Doch wie diese Leute, meist Tagelöhner, disziplinieren? Man musste Gruppen bilden. Jeder der von weit her Gekarrten wollte zum Heer der Gerechten gehören, niemand zu den Verdammten. Es muss Bestechung im Spiel gewesen sein.

Als ich in der Menge stand, zählte ich die Versammelten nicht. Von den Rossehaltern kaum zu unterscheiden, konnte ich ein Klapptreppchen ergattern, das den hohen Herrn das Besteigen ihrer Pferde erleichtern sollte. Das Treppchen machte mich zwei Köpfe größer. “Pass auf”, schrie mir einer zu, “das wird heute so spannend wie beim Glockengießen.”

Wer wird die Weiheworte sprechen?, rätselte ich. Ein Schauer von oben erfrischte die Gemeinde. Im Regen torkelten Löwenzahnpollen und Lindenblüten und sprenkelten die Festkleider. Ich entdeckte die amtlichen Zeichner vor ihren Staffeleien. Mit unbewegter Miene warteten sie, den Griffel gespitzt. Auch ich hätte die historische Szene, die Gesellschaft in Pelz und Brokat, festhalten können. Doch, obwohl ich die Begabung dazu hatte, – in meinem Leben lief nicht immer alles glatt. In entscheidenen Momenten stand mir kein Bildträger, weder Leinwand noch Holz, zur Verfügung. Auch erteilte mir niemand einen Auftrag.

Am Tage der Kanaleinweihung vertraute ich der Zukunft. Der Glanz der Sonne schaltete mein Hirn ab, ich hörte weder Gebet, noch Trompeten, noch das drängelnde Wasser. Nein, ein Gebet war noch nicht gesprochen, da geschah etwas Entscheidendes und Überraschendes. Ich sah es zunächst als Vorboten oder Opfer, das Glück bringen sollte, ein Opferlamm, in grüne Seide gepackt. Plötzlich schoss etwas durch den Kanal. Ich glaubte zu hören, wie man schrie: Auf dass unser Vorhaben gelinge!

Die Wasser schluckten Marie, nur ein wenig Stoff bauschte sich an der Oberfläche. Der Kanal entführt sie mir, dachte ich.

Es ist so lange her, wie konnte ich nur einmal so kühn sein? Ich sprang, obwohl es nichts nutzte. Es gelang mir, Maries Arm zu ergreifen und sie heraus zu ziehen. Die Menge reagierte nicht. Man wollte den großen tobenden Wasserfall erleben, keinen Unfall. Allein eine Tante aus der Familie, die mir das triefende Bündel entriss, drückte mir mit entgeistertem Blick die Hand. Die Rossehalter, dieses Volk, das immer wieder versucht hatte, mich vom Pferdetreppchen zu stoßen, witzelte über das nasse Fräulein, das keiner nach dem Unglück richtig zu Gesicht bekam, ich auch nicht.

Ich war ganz von Sinnen, wehrte mich gegen den Pöbel, mit ihm wollte ich nicht länger verwechselt werden. Keiner kam auf die Idee, mir ein gutes Wort zu sagen. Marie aber – Marie sah ich nicht wieder.

Damals wurde ich betrogen, schändlich verlassen. War meine Herzallerliebste ertrunken? Ich frage mich, ob es vielleicht gar nicht Marie war, die ich rettete, vielleicht war es ein anderes Persönchen in einem ähnlichen Kleid. Hat man mich mit einem ausgestopften Kleid getäuscht? Wäre ich nicht gesprungen, wäre das Opferlamm für mich wie für die Welt geopfert worden. Schlau war Maries Familie. Der soll sie nicht bekommen, hatte man beschlossen, der soll auch nicht nach ihr forschen. Wurde sie zu der Schandtat überredet oder wollte auch sie weg, weg von mir? War sie etwa noch stärker als ich besessen von dem Gedanken, ein ganz anderes Leben zu beginnen?

Ich erinnere mich noch an Maries Näschen und Mündchen. Ab und zu zeigt mir ein Schattenriss am Fenster ihr witterndes Profil. Mich treibt es seitdem um und um. Schließlich, es kann nicht anders sein, werde ich Glück haben.

Ich bin unterwegs, vogelfrei, gebe die Koordinaten meiner geheimen Insel an die Segel und die freien Winde weiter. Irgendeiner an der vorbeirauschenden Küste muss meine Schreie wahrnehmen. Es kann sein, dass die Koordinaten verraten werden, und dass mich das treulose Mädchen, launenhaft wie sie ist, auf dem geheimen Eiland erwartet.

Ich reise mit der Oostindischen Companie. Ein Winkel in der Tiefe der Kogge wurde mir zugewiesen, ein Verschlag in der Nachbarschaft vertäuter Kisten und Kästen. Ich will keinen Komfort, nur ein bisschen geschaukelt werden und hinschweben, wohin ich gehöre.

Die See ist ruhig. Um mich her, in der sanften Bewegung klirrt es, als streife man Korallenbänke. Matrosen singen die Zeit aus. Diese Männer sind so anders als die Rossehalter. Wenn ich mir im Stiegenhaus des Schiffes die Beine vertrete, sehe ich sie treppauf-, treppab laufen, mit Teetassen oder Tellern, aus denen es dampft, und für Minuten rieche ich den Tee oder die Suppe, der Duft windet sich an Deck, verträgt sich  mit dem salzigen Meer. Die Matrosen scheinen den Käptn, der auf sein Frühstück wartet, nie zu finden. Der Duft der Suppe hält sich lange über dem Schiff, er mischt sich in Luft und Wasser, eine hoffnungsvolle Verheißung: So könnte es sein, wenn du dein Land erreichst.

Der Wind bläht die Segel, das Knarren der Taue, das Qietschen der Balken, das Klingeln und Klirren dauert fort, man überhört es schließlich. Die Gedanken lösen sich.

Plötzlich aber klumpen sie wieder zusammen wie feuchtes Salz. Die Kisten und Kästen ruckeln, kratzen schärfer über die Planken. Geht etwas zu Bruch? Man muss Porzellan an Bord haben. Es gibt geeignete Mehoden, Geschirr auf engstem Raum zu verpacken. Einzelteile polstert man mit weichem Papier, stapelt sie so ineinander, dass sie sich gegenseitig stützen. Solcherart verpackte Ladungen landen im Falle eines Schiffsuntergangs fast unbeschädigt auf dem Meeresgrund. In dieser Kogge stößt sich das Dünnwandige, ich würde keine Garantie übernehmen, dass die Sachen heil ankommen.

Ein blinder Passagier, ein Engländer, hat sich mir im Laderaum zu erkennen gegeben. Dass sich einer unbemerkt einschleicht, passiert bei solchen Passagen immer wieder. Es ist wie in der Bibel: Die Anwesenheit eines Schmarotzers nimmt den regulären Passagieren die Sicherheit zu den Privilegierten zu gehören und zeigt ihnen unmissverständlich: In Übersee kann jeder versuchen glückselig zu werden, nicht nur diejenigen, die den Preis für die Überfahrt bezahlt haben, sondern auch die, die auf Gnade hoffen. Der Mann, der mir gegenüber tritt, scheint eine verwandte Seele zu sein. Er haust in einem Versteck, nicht weit von meinem Winkel.

Manchmal, wenn uns beiden danach ist, entspinnt sich ein Gespräch. Der Fremde ist übermäßig groß. Ich wundere mich jedes Mal, wenn er aus dem Fass, seinem Unterschlupf, steigt. Er ist kein Rossehalter, sondern gelernter Kupferstecher, er mag keine derben Späße. Seine Hände sind weiß und verquollen, als habe er sie zu lange in Säure gebadet. Er scheint vieles überlebt zu haben. Leidenschaft spricht aus seinen Zügen, seine Miene verändert sich bei jedem Wort. Er spricht mehrere Sprachen. Was er tut, verlangt Fingerspitzengefühl.

In unseren Unterhaltungen lassen wir alle Heiligen aufmarschieren, die wir mit Namen kennen. Wie jeder Seemann singt er gern. Er thront auf dem Fass, scheint nicht zu bemerken, wie seine Stimme, vom Brausen auffrischender Winde verstärkt und begleitet, den Bauch des Schiffes füllt. Singt er ein Kirchenlied? Der blinde Passagier scharrt mit den Füßen, lugt durch ein Astloch. Stellt er eine Frage, erwartet er keine Antwort. Getrost kann ich mich einrollen und auf den Schlaf warten, zuhören, wie merkwürdig sich die Zeilen seines Liedes reimen. Ich höre etwas von “stranger in a manger” und vom “Christopherus zum guten Schluss”. Die Schiffschaukel schaukelt. Ein Wimmern dringt aus dem Hintergrund, wie es Wickelkinder oder Mäuse von sich geben. Eine Katze springt dem Sänger in den Nacken, buckelt und schlingt ihren Schwanz um seinen Kopf. Der Sänger murmelt von “dishes und wishes”.

Wird es uns beim Teetrinken oder Kartenspielen, beim Schuften in einer Kohlengrube oder beim Kauf einer Katze erwischen? fragt er und gibt sich selbst die Antwort, indem er die Achseln zuckt. Die Natur lässt nach dem bewährten Zufallsprinzip die Würfel rollen. Die Evolution geht voran, ohne einen Gedanken an ihr Werk zu verlieren. Die Natur schenkt uns keine Beachtung. Beachten wir sie aber nicht, fegt sie uns hinweg, mit Stürmen, die ihr ein selbstverständliches Spiel sind.

Ach Marie! Die Natur ergreift dich und mich und setzt uns betäubt woanders ab. Wir werden sehen wo.

Plötzlich poltert jemand herein und schreit: “Wacht auf! Ein Unwetter kommt über uns, das wütet in der ganzen Hemisphäre. Wir gehen gleich unter.”

Wellen klatschen gegen das Holz, das uns vom Ozean trennt. Das Porzellan klingelt, klirrt, bricht, die Bilder der Geborgenheit verrutschen. Und schon schwappt die salzige Brühe die Stiege herab, mein Gesicht, bespuckt vom Salzwasser, sieht nicht. Schon hatten wir indonesische Gewässer erreicht, da drückt dieses Unwetter den Vordersteven unter Wasser. “Setz dich, wir müssen Kriegsrat halten”, ruft der Engländer. “Halt dich fest. Wir werden drunter durch tauchen wie beim Kielholen. Ich habe einen Termin mit einem Verantwortlichen der VOC, den lasse ich mir nicht nehmen.”

Wie gut, einen gewieften Freund zu haben. Ich will von ihm lernen. Auch ich hoffe auf Batavia, wo die “Verenigte Oostindische Compagnie” sich gut einrichtete und die Fäden zieht. Dort könnte Marie auf mich warten.

Der Engländer hat recht behalten. Die Kogge taucht unter und wieder auf, da sehen wir die verheißene Küste. In Kürze werden wir ausbooten.

Eine neue Seite scheint aufgeschlagen, ein großzügiges Querformat: Das Schloss in Batavia umgrenzen frisch gestrichene Festungsmauern, riesige Palmen ragen im Vordergrund. Gerade fährt der Generalgouverneur mit Gefolge zur Stadt, vorbei an den Ständen der Händler. Am “Kali Besar”, dem großen Fluss, findet ein Markt statt. Dunkelrote Kähne legen an und es wird ausgeladen. Schier endlos die Kette der gebückten Lastenträger. Im Vordergrund, die Schattenzone und darin, kaum erkennbar, dunkel gekleidete Spaziergänger, einer hebt sich vor dem gelben Sonnenschirm seiner Dame ab. Zwei Drittel der Höhe nimmt geballter, gewittriger Himmel ein, und von der Betrachterseite her dringt schwefliges Wetterleuchten ins Bild. Läuft dort, zwischen den Ständen, nicht Marie?

Auch ich war einmal ein Händler, hatte viel Glück mit Immobilien, die mit Gewinn gekauft und veräußert wurden. Das Bild Batavias kann einen in Versuchung führen, die Geschäfte wieder aufzunehmen. Doch nein. An meinem Sehnsuchtsziel, meiner Privatinsel, werde ich japanische Wandschirme aufstellen. Schon lange habe ich nach Kostbarkeiten aus der Unkoko-Schule Ausschau gehalten und einiges in die engere Wahl gezogen. Die Wandschirme werden den Raum teilen, und das Private vom Öffentlichen trennen. Nicht der goldene Grund oder die senkrechte Wellenmusterung sind das besondere an ihnen, sondern die Blütenzweige, die seitlich von der Bildbegrenzung beschnitten werden und an anderer Stelle wieder in sie zurückkehren.

Heute, beim Zurückschauen, existiert Batavia nicht mehr. Man hat die Warnungen nicht ernst genommn. Ein Vulkan brach aus und in seiner Folge regnete es Asche. Dann entluden sich tiefschwarze Wolken. Ein noch nie gesehener Sturm verwüstete die Inseln.

Alles liegt danieder, auch die Siedlung der Compagnie: Die Herrschaftshäuser, Verwaltungen und Lagerhallen und all die hübschen Puppenhäuser der Angestellten. Ein Palmkopf in Form eines Seesterns steht noch Posten. Ein zweites Kuriosum ist das Relikt des Kirchturms. Ein wenig gleicht er dem zeeländischen zuhause. Man hört Balken quietschen, auch das Winseln des Windes. Der Archipel aber ist zu einer Landschaft ohne Namen geworden, Jakarta passt genauso wenig zu ihr wie Batavia.

Die sieben Werke der Barmherzigkeit – wie soll man sie noch tun? Wo ist das Hospiz, in dem man Kranke pflegen und trösten könnte? Die Gefangenen sind längst befreit und entkommen. Die Reisenden sind auf und davon, man könnte sie hier nirgendwo beherbergen. Die Blöße der Nackten ist von Schlamm bedeckt. Die Hungrigen landeten im großen Topf der gwaltigen Stürme und die Durstigen hat die Flut getränkt. Das Feuer der Vulkane ließ die Toten unbegraben zerfallen.

Es gibt Karten, auf denen die Heimatländer verzeichnet sind, alle siebzehn niederländische Provinzen. Caspar Merian hat sie aufgeführt. Ich erinnere mich an Karten, auf denen personifizierte Winde aus vollen Backen blasen und die Segelschiffe unter einer Sonne mit Strahlen wie Schwertklingen kreuzen. Deutete Merian schon die überhand nehmenden Urwälder an? Kann sein, kann sein, wispert eine Stimme, es muss wohl die meine sein. Im Ungewissen schlägt mein Kopf gegen Stein, taumelt zurück, schlägt wieder an, zum Schluss. Wenn die Schlusssteine das Seufzen der Gemeinde nicht mehr aushalten, lassen sie sich dann erweichen? Eine Stimme brummt mir ins Ohr: “Geh endlich! Geh, wohin es dich treibt.” Es ist der blinde Passagier, der sein Ziel erreicht hat. Deshalb sagt er: “Ich bleibe. Die Compagnie hat mir den Auftrag erteilt, die Verhältnisse in Kupfer zu stechen. Man will weiter laborieren, später wird man die Siedlung wieder aufbauen.”

Ich habe mich wohl getäuscht, als ich Marie auf dem Marktplatz sah. Und wenn sie doch noch hier herumläuft, hält sie sich mit Unwichtigem auf. Ihr Schatten sucht die Händler, sie besteht darauf, ein Andenken zu erwerben. Ich befürchte, dass Marie sich nicht wieder einschiffen wird, wenn sie nicht findet, was sie will. Wollte sie je mit mir kommen, auf meine Zufluchtsinsel? Würden ihr denn die Wandschirme aus der Unkoko-Schule gefallen?

 

Sie: Armer Maurer, Makler, Künstler! Du hast von mir geträumt. Ja, es stimmt: Die Natur ergreift dich wie mich und setzt uns betäubt woanders ab. Das Leben wird von der ungerührten Natur bestimmt. So ist es mir ergangen:

Ich, Marie, war einmal eine Bürgermeisterstochter aus Veere. Den Vater hat man unehrenhaft entlassen, da konnte ich mit keiner Mitgift rechnen. Früher ging ich gerne mit meinem Schwesterlein spazieren. Hab dich beim Bau des Kanals getroffen und dann einen Anderen geheiratet. Meine Tante, die dir bei der Kanalöffnung die Hand drückte, vermittelte diese Heirat. Ich war einverstanden, denn ich dachte daran, dass meine Geschwister unversorgt zuhause saßen. Vielleicht zweifelte ich auch ein wenig an dir.

Hugo de Groot heißt mein Mann, ein studierter Jurist und Theologe. Wir haben nur kurze Zeit zusammengelebt, da brechen auf einmal Kriege aus und es trifft uns das Unglück.

Was für eine fürchterliche Zeit. Religionsstreitereien funken überall dazwischen. Hugo und drei seiner Freunde, die wie er denken, werden mir nichts dir nichts verhaftet. Wir hatten nicht damit gerechnet. Hugo und sein Club hätten verschwiegener sein müssen, sie konnten aber den Mund nicht halten.

Es war im Kontor oder in der Kneipe. Dort muss ein Spitzel der Polizei ihre Seufzer wahrgenommen haben und die Worte “Ich bin so froh, wenn das Morden mal aufhört!” Die Polizei sieht, wie das Clübchen nickt, hört neue Seufzer und dann ein solches vom Leder Ziehen über den Krieg, dass sie gleich eingreift.

Die Vier sind, das geben sie schon bei der ersten Befragung zu, Befürworter des Friedens mit Spanien. Schnell werden luchsäugige Zeugen gefunden, die erkennen die Arretierten als Teilnehmer von konspirativen Sitzungen wieder. Man sagt: Diese Vier sind Abtrünnige, Vaterlandsverräter. Die gilt es unter Verschluss zu halten. Wie kann Hugo, der Jurist, nur so unvorsichtig sein? Ja, dass er außer der Juristerei auch die Theologie studiert hat, kommt ihm manchmal dazwischen.

Prinz Maurits zieht seinen Vorteil daraus, den Krieg andauern zu lassen. Die Scharmützel haben ihm eine Menge Ansehen und Geld gebracht. Man behauptet, die vier Inhaftierten hätten Schriften veröffentlicht, in denen sie sich auf die Seite der Remonstranten stellten, sich von der calvinistischen Prädestinationslehre distanzierten und also ins bequeme Friedenslager gewechselt seien. Kurzerhand werden sie schuldig gesprochen. Einer wird enthauptet, einer verübt während der Haft, aufgrund der unausgesetzten Befragungen Selbstmord. Die übrigen zwei sollen lebenslang im Gefängnis schmoren. Hugo ist einer davon.

Ist dies besser als der Tod? Man gestattet, dass Frauen und Kinder den Männern in die Kellerlöcher folgen. Es ist ein Hohn. Hugo de Groot erlaubt man auf Anfrage seine wissenschaftlichen Studien weiterzuführen, bis dahin war dies nur sein abendlicher Zeitvertreib.

So vegetieren wir nun, im Halbdunkel, in nicht abnehmender Feuchtigkeit und Kälte. Die Verhältnisse greifen Hugos Gesundheit an. Was soll ich tun?

Einmal träumte ich. Erinnerst du dich noch an meinen weißen Kragen, so steif gestärkt, dass jeder zum Kuss bereite Galan zurückschreckte und mein Hälschen sich wund rieb beim Drehen. Ich musste den Hals aber viele Male drehen, beim Tanzen, und um die Welt anzusehen. Damals war sie so schön. Ich war jung und stolz auf den Kragen, der mir die Welt auf Distanz hielt. Ich dachte, ich hätte noch so viel Zeit.

Feuchtigkeit kriecht überall. Ich sitze und spinne das Garn meiner Gedanken. Wenn ich aufstehe, trete ich auf am Boden liegende Bücher. Alle zwei, drei Monate ersetzt man den Lesestoff meines Mannes durch neuen aus einer Bibliothek. Hugo hustet. Dieses Staatsgefängnis, was für ein Ort. Was kann ich tun?

Ich möchte weggehen. Ich weiß, ein schlimmer Gedanke, verlassen kann ich Hugo nicht. Nur die Bücherkiste aus geflochtener Weide darf herein und hinaus. Ist sie groß genug für einen Menschen?

Eines Tages bringe ich den Geschwächten dazu, hinein zu kriechen. Kaum fragt er, was das soll. Er dreht sich, rollt sich ein. Probeliegen für den Sarg, denkt er und flüstert: “Lass mich einfach liegen.” Da sehe ich, auch er hat nichts anderes im Sinn, als dieser Qual zu entkommen. Als er aus dem Korb steigt, denkt er aber nicht ans Sterben, sondern nimmt mir das Wort aus dem Mund: “Wir spielen ihnen den Streich. Du schickst mich statt der gelesenen Bücher hinaus. Bevor die Soldaten und ihr Aufseher die Bibliothek in Gorinchem ansteuern, werden sie Station bei der Familie des Aufsehers machen, außerdem ist dort gerade Jahrmarkt. Diesen Umstand kann man sich zu nutzen machen. Marie, du musst dafür sorgen, dass man mich hier krank im Bett liegen sieht, am besten du stopfst Bücher unter die Decke.”

Er übte das Stillliegen im Korb eine Nacht und einen Tag lang. Der Korb war sehr eng geflochten, die Atemluft überaus knapp. Nur in Unterwäsche und Strümpen trat Hugo die heimliche Reise an.

Am bewussten Morgen sind die Soldaten und der Aufseher nicht wirklich bei der Sache und ungeduldig. Der Bücherkorb ist nur ein Vorwand, um zu den Freuden der Stadt zu gelangen. Ich muss diese Schergen nicht lange bitten, und sie lassen mich mitfahren, um die Bücher im Auge zu behalten.

Regelmäßig macht der Korb den Umweg über die Familie, erfahre ich. Dort platziert man ihn unter dem Esstisch, während die Männer sich eine Nacht lang amüsieren.

Was für ein Glück, nur zwei alte Frauen und eine Handvoll Kinder sitzen mit mir im Zimmer. Man lacht mir ins Ohr, tuschelt, was auf dem Jahrmarkt in gewissen Etablissements passiert. Hugo ringt nach Luft, als er zu sich kommt. Ich löse unbemerkt den Verschluss des Deckels und langsam hebt er sich. Keiner am Tisch bringt ein Wort heraus. Man starrt den Halbtoten an, schaut zu, wie er aus der Kiste aufersteht. Zuerst weiß der bleiche Geist nicht, wo er ist, fasst sich aber. Alle Versammelten sind halbtot vor Angst. Die Gesichter der Frauen werden lang, man begreift langsam. Doch einem Wiederauferstandenen kann man den Wunsch nicht abschlagen, den er mit einer Stimme äußert – kaum von dieser Welt. Kein Viertelstündchen später kutschieren uns die Frauen im Ochsengespann ins nächste Dorf. Seht zu, was ihr nun anfangt, rufen sie erbittert.

In solch einer Situation lässt man sich vieles einfallen und erlebt einiges. Hugo und ich haben bizarre Dinge erlebt. Bis nach Paris schafften wir es.

Das Bizarrste an diesem Abenteuer bleibt aber unser Umgang mit der Literatur. Wir schätzen sie ungemein und haben sie doch einmal schwer missbraucht, indem wir ihre schwer wiegende Präsenz durch Hugos schwachen, vergänglichen Körper ersetzten. Das hat ihn gerettet.

Hugo, der überaus Geschwächte leidet seitdem unter Kopfschmerzen und Verwirrung. Ein Jahr nach Prinz Maurits Tod stellt man einen neuen Haftbefehl gegen den armen Mann aus. Doch wir wollen beide, koste es was es wolle, Widerstand leisten. Dieses Mal warten wir die neuerliche Pein in einem erträglichen Versteck ab. Hugo holt hier, wie wohl bis zu seinem Lebensende, versäumte Studien nach. Er wird immer klüger. Schlussendlich, als wir wieder auftauchen dürfen, ernennt man ihn zum Gesandten in Schweden.

Man lobt ihn als einen erfahrenen Mann. Das Wissen fliegt ihm aus den Büchern zu, aber Körper und Seele haben gelitten. Manchmal weiß er nicht recht, wofür er denn zuständig ist. Auf Antiquitätenmessen geht er auf die Suche nach einem Wandschirm aus der Unkoko-Schule. Vielleicht will er sein Zimmer teilen und in einem ruhigen Winkel sein Leben aufschreiben.

(Erschienen in edition Schrittmacher, Rhein-Mosel-Verlag, 2013)