Unberührbare Paläste

  1. Kapitel

In dieser Nacht träumte Tom von einem Sonnenaufgang, wie er einmal üblich gewesen war. Er glaubte einen zaghaften Lichtschimmer wahrzunehmen, einen gewittrigen Spuk hinter Wolken.
Es ging tatsächlich schon auf den Morgen zu, und ihm wurde klar, dass er halluziniert hatte, dass der Auftritt des Fixsterns nur eine Verheißung gewesen war, eine Projektion seiner Phantasie irgendwo auf der Innenseite seiner Gehirnschale. Die Aufhellung verschwand aus seinem Kopf, und die Nacht herrschte erneut. Sie schien sich sogar zu verdichten und auszudehnen.
Er sah auf die Leuchtziffern der Uhr, die ihn mit ihrem Summen geweckt hatte. Das Fenster des Gehäuses, eine milchige Membran, schien die Zeit einzuschließen und festzuhalten. Die dort angegebene Stunde war das gegenwärtig fassbare Bild, Teil der allgemeinen Apokalypse. Seine Augen schmerzten nicht, sie hatten sich angepasst.
Es wurde Tag, und gerade dieser schien wichtig, so wichtig. Tom aber empfand kaum noch sein klopfendes Herz. Das Zimmer hatte er vor drei Wochen gemietet und lebte seitdem hier. Sogar einen ersten Termin in seiner Angelegenheit hatte er bereits vereinbart und sich Notizen gemacht. An der Tür klebten fünfzehn oder zwanzig Merkzettel. Noch viele würden hinzu kommen, und daraus würde eine Liste von Stichworten entstehen, ein Plan, an den er sich halten wollte, um seine Tage zu strukturieren.
Die Feuchtigkeit im Raum hatte drei Zettel abrutschen lassen. Gestern abend, als er die Ansammlung wie so oft überflog, hatte er schon den Eindruck gehabt, als wäre ihre Anordnung aus der waagrechten in eine senkrechte geraten. Jeden Abend vor dem Einschlafen nahm er sie als Letztes wahr, und nun schienen die hellen Vierecke von der Tür in seine Richtung zu schweben. Ja, sie führten, unabhängig von ihm, ein Eigenleben, das war ihm schon aufgefallen. Tom musste dies verhindern. Manchmal aber schlief er schlecht, verharrte einfach in Untätigkeit, in einer Bewusstlosigkeit, aus der er am Morgen kaum heraus fand.
Heute glaubte er, ganz zu sich gekommen zu sein, denn heute war der Tag. Er beeilte sich, Appartement und Haus zu verlassen. Die schwarzen Aschepartikel, die wie üblich in der Luft schwankten, waren leicht wie Schneeflocken und kaum fühlbar. Sie konnten die graffitfarbene Fläche zwischen den Häusern kaum in Bewegung setzen.
Der Tag bestand wie die voraus gegangenen aus Nacht, die in Nacht führte. Dieser Zustand hatte sich etabliert, die Natur litt darunter, reagierte. Es schien, dass die schlafenden Bewohner der Stadt bei jedem Atemzug ein Stück ihrer eigenen, im Innern angehäuften Finsternis in die äußeren dunklen Stunden entließen, um etwas freier atmen zu können. Tom tat dies wohl auch, obschon er nur für eine bestimmte Zeit hier Gast war, als eine Art Geschäftsmann, dem es nicht um die eigene Person sondern um die Sache ging. Diese Sache erfüllte ihn ganz und gar. Sie war mit seinem Herzen verwachsen, er atmete in ihr, konnte sich aber um nichts in der Welt vorstellen, sie mit seinem Atem wegzugeben. Nein, wenn er Finsternis ausatmete, war es wohl die Furcht, die er empfand.
Noch einmal fiel ihm sein Traum ein. Die Dämmerung, die er zu sehen geglaubt hatte, war wie ein Tropfen Milch in ein Tintenfass gefallen, um die Rückverwandlung einzuleiten. Der Himmel aber hatte nicht begonnen sich zu drehen, und nun, da er sein Appartement verließ, schien ihm die Finsternis finsterer denn je.
In der Frühe waren einige Frauen fleißig gewesen. Sie hatten, wie es hier oft geschah, die Wäsche erledigt und die triefenden Stücke auf Stangen zum Trocknen über die Straße gehängt. Es gab in diesem Viertel keine Hinterhöfe und keine Balkone. Die Frauen achteten nicht auf die Asche in der Luft, die sich überall, also auch auf der Wäsche, niederschlug. Trat Tom des Morgens aus dem Haus, musste er sich meist durch einen Vorhang nasser Stoffe zu seinem Auto tasten. Das Trocknen der Wäsche in der feuchten Luft zog sich hin. Am Abend, wenn er zurückkam, streifte das Klamme wieder sein Gesicht. Wie zutrauliche Fledermäuse, die auf ihn warteten, dachte er. Sie baumelten im Wind an den Leinen, schinen sich auszuruhen. Sie kannten kein Ziel, für das es sich lohnte, davon zu fliegen.
Er wollte diesen Berührungen nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig schenken, erkannte aber die Kleidungsstücke, denn es waren immer dieselben. Das gerade Gewaschene verschmutzte schnell aufs neue, musste wieder und wieder gewaschen werden, und wurde erneut dem Ruß ausgesetzt. Die Luft roch nach Kohle, nach Schweiß und scharfen Waschmitteln. Auch die Stofffasern und Färbetinkturen mussten einen starken Geruch verströmen. Verschmutzung und Geruch gehörten zu den auffällig gemusterten Stücken
Nur manchmal kam es vor, dass er in Gedanken versunken vor diesen Hindernissen zurückzuckte und zu fürchten begann, etwas übersehen zu haben, auf das er nun hingewiesen wurde. Würde er es nicht beachten, so könnte es ihm bei seiner Unternehmung schaden.
Einmal, als er noch verschlafen aus der Tür gestolpert war, verfing er sich in den Stoffen, und er verfluchte diese Hosen, Röcke, Überwürfe, diesen Mummenschanz, der sich ihm als eine Verkleidung aufdrängte. Seltsam verschränkte Blasen und Gitter nahm Tom wahr, und diese vernetzten sich. Weil es direkt vor seinen Augen geschah, verschwamm alles miteinander, wurde fast unsichtbar, und er befreite sich von den Stoffen. Es gab keinen Grund für ihn, sich zu verkleiden, denn es ging hier nicht um irgendein Zauberspiel oder eine Vorspiegelung. Er war in einer realen Angelegenheit von höchster Bedeutung unterwegs. Plötzlich jedoch dachte er, dass er nicht das Mindeste außer acht lassen dürfe, dass ihm alles Gezeigte kostbar sein müsse, weil es ihn unterstützen konnte. Nur ein winziger Lichtstrahl aus einem Fenster genügte, um Goldfäden in den verschmutzten Tüchern, die über der Straße baumelten, hervorzurufen.
Toms Mietwagen rollte aus der Siedlung, und zum Glück sprangen nun die Scheinwerfer an, denn die Straßenbeleuchtung war wieder einmal ausgefallen. Er erreichte die Autobahn, wo sich Fahrzeug an Fahrzeug reihte. Hier herrschte ein beinahe angenehmes Rauschen, eine Tiefseestille, die etwas Magnetisches besaß, die jedes Geräusch, wie das leise Brummen der Motoren, auch jede störende, hektische Bewegung in ihr Inneres zog und löschte.
Wie oft in den letzten Tagen begann es stark zu regnen, und auf dem Asphalt trieben Reflexe von Autoscheinwerfern umher, sowie der Abglanz der in größeren Abständen über der Bahn hängenden Lampen, von denen die eine und andere jetzt doch zu flackern begann.
Tom schaute auf die Plane des vor ihm fahrenden Lastwagens. Zuerst erschien sie ihm farblos, dann lila. Sie war ohne Aufdruck, eine eindrucksvolle, leere Fläche, die straff die Konstruktion umspannte, an ihren Eckpunkten glühten Rückleuchten. Das Quadrat stand vor ihm wie ein verlässliches Zeichen, bewegte sich so, dass man sein vorwärts Rücken kaum empfand.
Die symmetrische Erscheinung erhielt in ihrer Beständigkeit nach einer Weile etwas Feierliches und erinnerte Tom an eine andere geometrische Form, den Lichterbaum, der einmal im Jahr auf dem größten Platz in seiner Heimatstadt aufgestellt wurde. Jedes Jahr wiederholte sich das Ritual. Hier, im Dunkelland, begegnete man häufiger festlichen Ritualen von spiritueller Art. Unübersehbar tauchten sie auf, für Tom noch nicht durchschaubar. So unterbrachen beispielsweise Straßenarbeiter ihr Tun und verbrachten lange Minuten in Meditation, einer Versunkenheit, die bestimmte, im Ritus vorgesehene Handlungen nicht ausschlossen. Die Männer hockten sich, wo sie gerade gingen oder standen, auf den Boden, wirkten von einer Minute zur anderen völlig in sich gekehrt. Jede Gestalt bildete mit dem letzten aufragenden Zipfel ihres Turbans, ein ähnliches Dreieck, wie er die Dreiecke der Nadelbäume von zuhause in Erinnerung hatte. Aufrecht am Boden hockend, führten die Hockenden beschwörende Gesten aus, die sowohl heiligen wie auch profanen Ursprungs sein konnten. Vielleicht machten ihre Handlungen das Profane zum Heiligen, oder es gab es eine Grenze, die das Bild vom Asphalt trennte, doch war es Tom nicht möglich, diese Grenze zu erkennen.
Die Sprache des Landes verstand er soweit, dass er glaubte, zurecht zu kommen. Ihm war gesagt worden, dass die Bewohner dieser Gegend wohl verschiedene Idiome und Dialekte benutzen würden, und während der Anreise hatte er sich immer wieder quälend vorstellen müssen, wie er sich nicht verständlich machen konnte, umsonst fragend umher irrte und sein Unternehmen schließlich daran scheitern würde. Doch aus der Kolonnialzeit hatten sich manche europäische Sitten gehalten, zu denen auch die Pflege der einmal aufgezwungenen Sprache gehörte. Wenn er jemanden ansprach, antwortete man ihm meist in Satzbrocken, mit eigenwilligem Akzent. In den letzten Jahren hatten auch Aussiedler aus Amerika her gefunden, denn das einstmalige Armenhaus der Welt, so hatte es geheißen, biete nun besondere Möglichkeiten.
In Toms Ohren klang das verschieden züngelnde Palavern, das ihn bei seinen Gängen durchs Zentrum umgab, nun fast angenehm. Er bewegte sich unbeachtet und beinahe von diesen Lauten beschützt. Tausend Nuancen wirbelten durcheinander, und dies war ihm bereits vertraut geworden. Er behielt Worte und Wendungen im Kopf, merkte sich Sätze, die ihm weiterhalfen. Die Verständigung gelang mit diesen kurzen Sätzen oder auch nur durch Zeichen, die das Erhoffte heranzogen oder es wegstießen.
Es kam vor, dass ihm Bettler oder fremde Gestalten nachliefen. Irgendetwas wollten sie von ihm, ließen die Ausrede nicht gelten, dass er kein Hiesiger war. Diese Leute mussten von ihm das eine und andere in ihrer Sprache gehört haben. Antworte uns doch, schienen sie zu rufen. Es kam vor, dass sie ihn ärgerlich festhielten, als glaubten sie nicht, dass er sie nicht verstand. Auch deshalb hatte sich Tom angewöhnt, sein Fragen auf das Notwendigste zu beschränken und bei seinen Gängen durch die Stadt, wenn möglich, nicht stehenzubleiben.
Er hörte das Pfeifen der Züge aus der Ebene jenseits der Autobahn. Die roten Rückstrahler des Lastwagens glühten nun stärker in ihren Höfen, und plötzlich schienen sie sich von den Eckpunkten der Plane zu lösen und sich seitlich zu entfernen. Die Rückfront des Lasters verdunkelte sich etwas, wurde nicht größer, sondern bewahrte ihre Konzentration, glich sich nur etwas ihrem Umfeld an, der wolkigen Antrazittönung der Nacht.
Nach einigen Minuten war das so verlässliche Quadrat für Tom kaum noch wahrnehmbar. Er glaubte zu sehen, wie sich seine Ecken nach den entkommenden Lichtern ausstreckten. Es war, als wolle der Wagen nun eine andere Richtung nehmen, ganz in den Regenfluss eintauchen. Wieder hörte Tom in der Ferne die Geräusche von Zügen.
Er war sich nicht sicher, ob er sich bereits in der großen Biegung befand, die in die Stadttangente mündete. Seine Augen suchten das Bild des Lasters, das ihm doch so nahe gewesen war, und als er es wiederfand, saugte sich sein Blick daran fest, und er glaubte, wieder geführt zu werden. Nur dieser Wagen allein schien auf einmal den Verkehr in Gang zu halten, schien die vorausfahrenden Fahrzeuge vor sich her zu treiben, die folgenden mitzuziehen. Gerade weil Tom ein Ziel hatte, das er beharrlich verfolgen musste, war ihm bewusst, dass er Zufällen und Umwegen ausgeliefert war, mit denen er rechnen musste. Er fürchtete sie.
Die Kolonne hatte durch die Peripherie gefunden und die eigentliche Stadt erreicht. Hier wurde der Verkehr durch Hinweisschilder an einer Baustelle vorbei in eine schmalere Straße geleitet. Diese schien behelfsmäßig und wies Löcher auf, welche mühsam umfahren werden mussten. In den vorbeiziehenden, niedrigen Häusern sprangen Punktleuchten an, Fenster wurden aufgestoßen, Rolltüren aus Wellblech hochgezogen, und jemand trat aus der Tür, in der hier vorherrschenden, unentschiedenen Kleidung, denn man wusste nicht, ob man auf Schwühle oder Kälte gefasst sein musste. Tom sah durch ein Fenster Teile einer Gestalt. Es war ein Mann, der sich, über eine Schüssel gebeugt, Schultern und Nacken wusch.
Man passierte einen Plasmabildschirm, der auf dem Flachdach eines zweistöckigen Gebäudes installiert war. Die Konstruktionszeichnung eines rätselhaften Gegenstandes baute sich auf dem Schirm auf. Tom hatte an einem der letzten Tage bereits die Zeichnung in ihren Anfängen beobachten können. Doch auch heute erkannte er nicht, was sie darstellte, obwohl die Abbildung aus sehr hellen Linien bestand, die sich gut vom Hintergrund abhoben. Über der Zeichnung leuchtete kurz danach eine Buchstabenfolge auf, doch auch diese half Tom nicht weiter. Der Text stand wohl, wie bei Werbeslogans üblich, nur in einer sehr lockeren Beziehung zum Gegenstand. Schnell wechselte das Bild, und es ging um ein neues Produkt mit einer anderen Werbebotschaft. Ich will demnächst mehr auf die Zeichnung achten, dachte Tom, obwohl er fast sicher war, allein mit Hilfe der schematischen Darstellung dem Gegenstand, um den es ging, nicht auf die Spur zu kommen.
Wie spät konnte es sein? Tom hätte den LKW überholen sollen, nun, in der engen Straße, war dies nicht mehr möglich. Der Verkehr musste seitlich abgestellten Wagen und Karren ausweichen und die Autoschlange kam kaum voran. Schließlich blieb der Lastwagen stehen, so dass auch Tom anhalten musste. Zwei Männer in weißen Kitteln tauchten von vorn auf, sie winkten und riefen etwas zur Fahrerkabine des Lasters hinauf. Daraufhin wurde das Fenster heruntergekurbelt.
Die Schlange stand. Warten Sie, dies glaubte Tom zu verstehen, haben Sie Geduld. So etwas hörte er hier oft, es war eine Redensart.
Nach einer Weile holte der Mann im Wagen hinter Tom ein Buch hervor und begann zu lesen. Der Regen wurde stärker, schien aus mehreren Richtungen zu kommen. Windböen rüttelten an der Karosserie, Abfall kollerte die ansteigende Straße herab, eine weggeworfene Zeitung fächerte sich auf und einzelne Blätter flogen umher. Ein Doppelblatt sank zunächst aufs Pflaster, erhob sich aber wieder und brachte das Kunststück fertig, sich auf seinen Ecken wie ein Rad zu drehen. Dann fiel es aber erschöpft zusammen, lag im strömenden Regen, bis ein Windstoß es noch einmal mit sich riss, neu entfaltete und gegen die Frontscheibe von Toms Autos klatschte. Die Nässe wirkte wie Kleister, das Papier blockierte den Scheibenwischer. Tom hoffte auf eine starke Böe, die sich den Fetzen wieder holen würde.
Das Doppelblatt stammte aus einer englisch sprachigen Tageszeitung. Der untere Rand fehlte, Schrift und Bild des Hauptartikels waren verschmutzt, aber noch gut erkennbar wie das abgedruckte Foto. Tom betrachtete das Brustbild eines Mannes. Da glaubte er, der Lastwagen vor ihm habe sich in Bewegung gesetzt und sah aus dem Seitenfenster, doch es ging noch nicht weiter, und so begann Tom den Artikel, der zu dem Bild gehörte, zu lesen.
Es war ein Kommentar zum Rücktritt des Agrarministers. Der Minister hatte wiederholt Maßnahmen gefordert und Vorschläge zur Verbesserung der Lage gemacht. Bisher hatte er sich aber nicht durchsetzen können. Die Summe, die er von der Regierung forderte, war bei jeder seiner Reden höher geworden. Vielleicht seien seine Forderungen übereilt, auch unangemessen gewesen, schrieb das Blatt. Vielleicht habe er sich von der Panik gewisser Kreise anstecken lassen. Panik war jedoch unter allen Umständen zu vermeiden. Man hatte ihm im Parlament größten Widerstand entgegengesetzt und ihn von mehreren Seiten belehrt, doch verteidigte er seine Meinung und ließ eine Reihe von Fachleuten für sich sprechen.
Der Zeitungsbericht ging verschiedenen Argumentationen nach. Natürlich musste etwas unternommen werden, da war man sich einig. Aber sollten nicht zuvor andere, landesweite Analysen ausgewertet werden? Am Ende der Parlamentsdebatte hatte sich die Mehrheit gegen die Vorschläge des Agrarministers ausgesprochen. Die Lage würde mit der notwendigen Gewissenhaftigkeit weiter beobachtet, hieß es, eine Expertenkommission tage pausenlos, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und zu gegebener Zeit würde es zu jedemann zugänglichen Darlegungen kommen.
Der Artikel betonte, dass der Minister bei seinem Rücktritt wohl sein Amt, doch nicht die Sorge um das Schicksal des Landes aufgegeben habe. Womit hat unsere Hemisphäre diesen mysteriösen Schlaganfall verdient, so klage er immer wieder.
Dem Zurückgetretenen ging es vor allem um die Versorgung der Bevölkerung. Wie sollte unter den herrschenden Verhältnissen die Agrarwirtschaft aussehen? Der Anbau von Lebensnotwendigem für Mensch und Vieh war aufs Äußerste in Frage gestellt. Es sah so aus, als stünde in Folge der „Indischen Nacht“, wie die andauernde Verdunkelung genannt wurde, eine noch nie erlebte Regenzeit bevor. Der Minister hatte sich in sein Haus in den Bergen zurückgezogen, kämpfte mit den Folgen einer Herzattacke und stand unter ärztlicher Aufsicht.
Tom schaute dem Mann auf dem Foto in die Augen. Es waren dunkle, glänzende Augen, sein breites Gesicht mit dem mächtigen Kiefer wirkte entschlossen. Vielleicht besaß er tatsächlich den Willen und die Fähigkeit, sich der Sache des Allgemeinwohls bis zum Ende, bis zu einem Ausweg aus der Katastrophe, anzunehmen. Die Beleuchtung, die der Fotograf für das Portrait gewählt hatte, verbarg nicht das Handycap des Ministers, einen nervösen Tick, der seinen Mund unscharf machte und leicht verzerrte. Das Bild schien verborgene Energiereserven anzudeuten.
Tom dachte, wie stellt er es sich vor? Den Tag wieder herbei zaubern, kann er nicht. Hat er ihn wirklich noch gut genug in Erinnerung, um Ausgleichsmaßnahmen einzuleiten oder irgendwelche Simulisationen? Diesem Mann war noch keine rettende Idee gekommen. Keiner, niemand auf den beiden konträren Seiten des Planeten reagierte bis jetzt, nirgends gab es ein Konzept. Hier wollte die Sonne nicht mehr aufgehen, zuhause wollte sie nicht mehr untergehen. Den nicht enden wollenden Tag, sowie die anhaltende Nacht, diese unfassbare Anomalie, die alles Leben veränderte, konnte man sich einfach nicht erklären.
Die zum Anhalten gezwungene Autoschlange befand sich fast schon in der Innenstadt. Die Fahrer in ihren Kabinen hatten es eilig, verhielten sich jedoch ruhig. In wenigen Minuten sollte Tom über „Gwen“ sprechen, über den Roman, und dies nahm all seine Gedanken in Anspruch. Seine Nervosität wuchs. Einige Szenen aus der von ihm erdachten Geschichte waren ihm immer gegenwärtig.

© Christa Estenfeld