Die Füße meines Onkels

Steht nicht alles aufgeschrieben, gut verwahrt in der Tasche auf ihrem Schoß? Die Reisende sitzt, als umklammere sie ein Kind, das keine Staus, keine Unfälle draußen und keine Einflüsterungen drinnen verträgt. Um es festhalten zu können, fährt sie mit der Bahn. Dabei fürchtet sie nicht, dass etwas Unvorhergehenes passiert, dies kann durchaus interessant sein – man muss es nur zu nehmen wissen. Ihr Ausflug hat etwas Überstürztes, er wurde in den Brotberuf hinein improvisiert. Die Reisende führt das richtige Manuskript mit sich – ich bin ganz regulär eingeladen worden, denkt sie, ich bin ganz ruhig.

Die Geschichten habe ich mir nicht aus den Fingern gesogen, sie sind mir eingefallen und zugeflogen, einfach widerfahren. Die Handlung gestaltet sich aufregend, es geht um etwas, das ich beobachtet habe, an mir und den Leuten. Manchmal erscheinen die Szenen   ganz beiläufig. Man denkt dabei an spannende Ermittlungen, fragwürdige Tableaus, in denen beispielsweise längere Zeit unbewegte, am Straßenrand parkende Autos vorkommen.

Ein solches blechernes Tier machte vor kurzem meinem Onkel zu schaffen. Der Amtsschimmel reagierte übernervös, eines schönen Tages kam eine Dame und kratzte dem Auto die Zulassung weg. Es schrie in hoher Frequenz, doch die Dame tat nur ihre Pflicht. Aus irgendeinem Grund besaß der Wagen keine Versicherung mehr und wurde kurzerhand stillgelegt. Man muss sich das mal vorstellen. Mein Onkel hat in einer Notlage zu lange abgewartet, konnte sich nicht entscheiden. Sollte er zum Fußgänger werden? Dies  wäre zu weit gegangen, eigentlich verband ihn ein angenehmes Gefühl mit seinem Blechgefährten. Er hat immer betont, wie flexibel ihn sein fahrbarer Untersatz macht ­– bis zu diesem Tag. Jetzt scheint ihm die Entscheidung aus der Hand genommen. Gestern rief er mich an und sagte: “Wäre gerne zu deiner Lesung gekommen, es klappt aber nicht, ich klebe hier fest.”

Eine seltsame Erscheinung, mein Onkel. Alles an ihm ist rund, außer den Füßen. Kantig treten die Ballenknochen der großen Zehen hervor. Sie gleichen nackten Fäusten, die aufeinander losgehen, die überdimensionalen Zehen sind wie Hochhäuser mit platten Nagelgesichtern, Fersen und Knöchel – scharf geschnitten wie Felsgeröll. Ich kenne diese landschaftlichen Eigenarten, weil der Onkel mir immer barfuß die Tür öffnet.

Am Telefon rief er mir zu: “Deinen jüngsten Essay kaufe ich mir. Neulich bemerkte mich eine gerade erst eingestellte Verkäuferin in meinem Lieblingsladen am Bahnhof. Als sie mich nicht von den Kramtischen vertreiben konnte, meinte sie, mein Verhalten sei nicht der Regel entsprechend, ich hätte anscheinend eine Tendenz zum Zweit- und Drittbuch.”

Ob der Alte ein Frauen- und Buchversteher oder ein Verächter dieser beiden Spezies ist, kann ich nicht wirklich beurteilen. Ich sagte: “Wenn du willst, komm einfach zu meiner Lesung, du störst nicht. ”Ich sagte das auf gut Glück, doch da hatte der Alte schon aufgelegt.

Lesen lernte ich schnell. Als ich meiner Schwester zum ersten Mal eine Stelle aus dem Aufsatz eines Schulfreundes vorlas, ich denke es war in der zweiten Grundschulklasse, erkannte ich meine Stimme kaum wieder, so neu klang sie, man kann sich das heute kaum noch vorstellen. Ich lauschte den Sätzen nach, probierte sie noch einmal und noch einmal. Meine Schwester hörte bereits nicht mehr zu. Ich merkte, das was ich las, gefiel mir selbst immer weniger. Ich begann zu schwitzen und die Silben, die aus meinem Mund traten, schwankten. Sie wollten sich verdünnisieren und konnten es nicht. Dann aber vermutete ich, dass ich diese Wörter, die kaum noch zueinander fanden, wohl nie mehr wiedersehen würde. Mein Mund wurde trocken.

Meine Schwester drehte sich zu mir um und sagte, ich solle nicht so schreien, sie müsse das nicht mitbekommen, sie kenne die Zeilen, wisse, aus welchem Lied sie stammten, man müsse sie singen und nicht deklamieren. Sie hatte natürlich recht – wie immer. Als sie aus dem Zimmer gegangen war, versuchte ich es mit Singen. Rhythmus ist auf jeden Fall wichtig, doch ich habe keine Singstimme und das ärgert mich so, dass ich mich ernsthaft mit diesem Manko beschäftigte. Heute unterrichte ich unter anderem Musik an einem Gymnasium. Wenn ich meine Schüler beim Musizieren unterbreche und sie auf bestimmte Nachlässigkeiten hinweise, Fehler möchte ich es gar nicht nennen, höre ich oft ein gedehntes, in die Höhe gezogenes “Okay”. Nicht immer werde ich verstanden. Das “Okay” ist aber keine Frage, das Wort drückt nur ein wenig Skepsis aus. Der Endlaut hat seine höchste Erhebung erreicht, sobald das Vertrauen die Skepsis überwunden hat, und dies ist rasch der Fall.

Meine ältere Schwester hat mir während sich hinziehender Kinderkrankheiten gerne Karl May vorgelesen. Zum Glück trennte sie die spannenden Handlungsstränge nicht von den Landschaftsbeschreibungen, so wie gewiefte Leseratten verfahren, die die minutiöse Charakterisierung der Orte gerne überspringen. Tapfer holperte sie durch kalte Canons und endlose Prairien, bis sie auf die Protagonisten traf. Ja, sie verschwieg mir keinen der Sätze, die dem Autor wie ein Sturzbach aus der Feder geflossen sein sollen. Meine Schwester hat sich wirklich Mühe gegeben. Man konnte sich beim Zuhören am Sofa festhalten und gleichzeitig unterwegs sein.

Heute aber muss ich nach Hamburg und die Strecke zieht sich wie eine Kinderkrankheit, in der keiner vorliest. Zum Glück durfte ich meine Schüler um 12 Uhr 45, zehn Minuten früher als gewöhnlich, nach Hause schicken, um den Zug zu erreichen.

Welche Leute werde ich am Abend treffen? Es ist mir erstaunlich gleich. Zu dem bevorstehenden Event gehört die An- und Abreise, sie ist kein Spaziergang. In manchen Augenblicken sitzt man wie auf Kohlen. Glutheißer Mai, neben den Geleisen blüht der Löwenzahn. Es ist, als würde er felderweise angebaut, Milchglaskugel drängt an Milchglaskugel. Darinnen, beengt wie die Gestalt auf dem Zugpolster, thronen nicht Pünktchen und Anton, sondern eine geschrumpfte Gesellschaft.

Was beengt die Reisende? Ist es das Manuskript? Stechen die bedruckten Papiere in ihre Rippen? Alle diese Zeichen berühren, verbinden sich, werden zu stampfenden Zügen und rasen in Tunnels. Die Zeilenbotschaften durchdringen Körper, alles, was ich zu mir steckte, sie schießen am pulsierenden Herzen vorbei. Nein. Wahren Schreibern gelingt es nur zu gut das Pulsierende zu treffen. Das Herz kann an den genau gezielten Worten zerbrechen, die es mit seinem Schlagen geradezu anzieht. Die Zeilenzüge singen beschwörend, eine Stimme mit besonderem Timbre verkündet, um was es geht.

Schiller las man anlässlich seines runden Geburtstages vierundzwanzig Stunden non stop. Man hatte Schauspieler engagiert. Es gibt großartige, das Publikum muss sie gar nicht sehen, um sich zu begeistern. Diese Magier werden von der Bühne oder der Leinwand aus zu Herzensbrechern, der Fan vergisst sich, wenn er sie nur hört. Sie schlagen jeden Casanova, der die direkte körperliche Nähe sucht.

Das Wort “Herzensbrecher”ruft die Vorstellung einer endgültigen Tat hervor. Den touchierten Herzen sieht man eine schwerwiegende Verwundung nicht immer an. Möglich ist, dass das verletzte rasch gegen ein neues ausgetauscht wird. 1967 gelang dem Chirurgen Barnard das Kunststück zum ersten Mal. Er betrachtete die lebenswichtigen Organe unter pathologisch klinischen Gesichtspunkten, ob sie im eben erwähnten Sinne gebrochen waren, interessierte ihn nicht. Die transplantierten Herzen jedoch waren überaus anfällig.

Barnard, der als Sexist Verschriene, konnte gut reden. Bei seinen Statements vor der Presse wirkte er entspannt und seiner selbst sicher. Fast kam es einem vor, als nehme er seine Pioniertat auf die leichte Schulter – ein kaltblütiger Künstler. Bei jener Schiller-Lesung non stop ließen die Worte des Dichters, geformt durch den Mund der magischen Schauspieler, mein Herz viele Male stillstehen und erweckten es schon im nächsten Moment wunderbar wieder zum Leben. Denn an den wie Pfeile geschleuderten Texten hing eine so packende Melodie und ein so zischendes Gift, dass man über der Mixtur jede Müdigkeit vergaß. Das sprudelte und dröhnte durch die Jahrhunderte wie alles und nichts, und das Beste daran war von jeglicher Zeitenzufälligkeit unberührt.

Die Füße meines Onkels, wenn er die Tür öffnet – um genau zu sein, ich habe ihn erst zweimal besucht – sind sehenswert, wahre Neandertalertreter, eine lasche, porenlose Haut hält die Knochen zusammen. Eigentlich stehen der Onkel und ich nur durch gelegentliche Telefonate oder E-mails in Verbindung, dann aber ist er recht offen. Einmal erwähnte er, dass er sich verliebt habe. Er sprach es nicht aus, doch es war klar, was er sagen wollte.

„Die Füße meines Onkels“ in der Anthologie „Inkas Lesetraum(a), Rhein-Mosel-Verlag, 2011