Wenn die „Titanic“ wieder untergeht

Die „Titanic“, ein wunderbares, nur etwas zu unachtsam gebautes, zu schnell fahrendes Schiff, wollte von Europa nach Amerika und retour. Eine Schar global zusammengemixter Passagiere befand sich anbord. Viele kannten Amerika noch nicht und nannten es die neue Welt. Dabei ist der Kontinent so alt wie das alte Europa. Aber man hat eine Sehnsucht nach Möglichkeiten, auch heute, die ist so groß, sie kann gar nicht erfüllt werden. Wenn man sich ihr überlässt, landet man höchstens in Hollywood. Ich habe mir angewöhnt, meine Sehnsüchte nicht mehr so ernst zu nehmen. Das bewusste Schiff habe ich nie gesehen, kenne aber den Film. Kennen Sie den Film?

Für mich geht die „Titanic“ in den Augen von Barbara Stanwick unter. Ich sehe das Schiff in diesem alten Schwarz-Weiß-Streifen, es ragt nur noch halb übers Wasser, und doch funktioniert es bis zuletzt. Kurios steckt es im schwarzen Schlamassel. Auf der Oberfläche der See trudeln seine Ableger. An Bord hat man sich verrechnet, das Hybride muss umschlagen, rein physikalisch wird es so kommen.

Steht das in Barbara Stanwicks Augen? Ich lese, wie oft bei ihr, eine Andeutung von Angewidertsein und trotzigem Kopfschütteln heraus. Vorbei, das festliche Dinner. Wo sind nun all die freundlichen Gesichter? Sie sind müde geworden vom Freundlichsein. Ahnte einer  die Katastrophe, als man auf hohem Deck stand? Für einige war es eine Auszeichnung, auf dem Luxusdampfer fahren zu dürfen, den Träumen entgegen.

Das Schiff rammte den Eiskoloss, da sprang ich hinüber. Irgendwann, so fürchte ich, wird der Koloss sich im Wasser auf die andere Seite wälzen, doch ich wünsche mir, zu den Überlebenden zu gehören. Unerträglich kalt ist es unter meinen Fußsohlen. Ich starre auf die spiegelglatte See, auf das schräg liegende Schiff. Dort spielt das Orchester und die Töne flattern an mein Ohr.

Ich trage das gemusterte Ensemble, zu dem ich mich an diesem festlichen Abend entschieden habe. Dieses Kleid sticht vom puristischen Hintergrund ab und ich sehe ein, dass meine Kinonachmittage mit Popcorn und Cola unwiederruflich vorbei sind. Bald gibt es nur noch die ins Endlose hallende Television.

Doch wie gesagt, ich sehe die Katastrophe durch die Augen von Barbara Stanwick und die macht ihren Job gut. Sie hätte nur einen besseren Partner verdient. Nicht den Lover Leonardo di Caprio, aus dem jüngsten, so erfolgreichen Film, eher einen wie Johnny Depp. Alle, die Johnny aus „Dead Man“ als „William Blake“ kennen,  erinnere ich an die Stelle, an der er zu seiner Verteidigung um sich schießt, obwohl er gar nicht schießen kann, und sein Indianerfreund ihn fragt: „He, William Blake, sind das deine Gedichte?“ So einer ist Johnny Depp.

Der Eisberg packt mich, das heißt meine Füße frieren fest. Doch meine Begeisterungsfähigkeit hat ein Maß erreicht, das ich für unmöglich hielt. Halluzinationen überkommen mich. Die weißen Klippen liegen fern, Shakespeare aber grüßt herüber.

Früher einmal wohnte ich einer Schüleraufführung bei. Sie war gelungen und die Erinnerung daran lässt die Kälte zu Hitze werden. „Titania“, die Elfenkönigin aus dem „Sommernachtstraum“, steigt herauf. Es ist zu schön. Die über den Wellen Schwebende ähnelt ein wenig der schaumgeborenen Venus. Ich kenne die Schülerin gut. Die junge Darstellerin hatte den aktuellen „Titanic“ Film mindestens zehnmal gesehen. Vielleicht verführte sie der verwandte Klang des Rollennamens mit dem Namen des Schiffs, jedenfalls war der Bezug, den sie zwischen dem Film und dem Shakespeare-Stück herstellte, nicht zu übersehen. Schwermut, eine unauslotbare Trauer überschatteten „Titanias“ Spiel. Auch jetzt ist es, als starre sie die ganze Zeit auf die Uhr über dem mahagonirot getäfelten Treppenabsatz im versunkenen Schiff.

Hinter den Panoramascheiben liegt in grünem Zwielicht dieses englische Castle, das ich einfach nicht vergessen kann. Drinnen, karge Räume, die Möblierung fast vollständig ausgeräumt, versteigert. Nur der drawing-room ist noch historisch korrekt eingerichtet, mit all den spitzen Federn und Zirkeln in ihren Etuis und Lederhalftern. An der Wand hängt eine vertrackte Geschichte, ein kleiner Schaukasten, in dem ein Portrait in ungewöhnlicher Art präsentiert wird, in viele senkrechte Streifen zerschnitten. Diese sind in Schrägstellung zwischen die obere und untere Kante des Rahmens gespannt. So ergibt sich das Gesicht des Portraitierten in natürlicher, unverzerrter Sichtweise nur im Vorbeigehen und nur von einem Punkt aus. Das Portrait ist auf der Rückseite mit einem anderen Motiv bemalt, blaue Anemonen in einer Glasvase. Die Blumen kann man sehen, wenn man sich dem Rahmen von der anderen Seite nähert. Hinter einer Tür hängt eine Uhr in einem länglichen Gehäuse, deren Zeiger dem gewohnten Uhrzeigersinn entgegen wandern.

Das aufrüttelnde Geräusch des Kiesbelags rings um das Castle verscheucht die Müdigkeit. Die gepflegten Obstspaliere und Beete mit ihren exakten Einfassungen sind eine sekundäre Pracht, primär beeindrucken die Buchsbaumskulpturen auf den Rasenflächen.  Der  Garten ist wie ein aufgeräumter Tisch, auf dem dekorativ ineinander gestapelt und auseinandergerückt, sorgfältig designte Schüsseln, Schalen und Tassen stehen, zylinderförmige Kannen mit kugeligen und Pyramiden förmigen Deckeln, Würfel und eigenartige Räder, mit dem Umfang von Mühlsteinen. Trotz des vergrößerten Maßstabs erinnert das alles an ein kostbares, selten hervorgeholtes Geschirr, das allein der Betrachtung dient, nie wirklich benutzt wird.

Im Hintergrund dieses Gartens befindet sich eine kleine Eisenpforte. Hier schließt sich dem Ziergarten ein Naturgarten an, die Mauer des Grundstücks umgibt auch ihn, obwohl er auf den ersten Blick einem Stück unberührten Waldes gleicht. Im brusthohen Gras winden sich einige Obstbäumchen, die es durch den Samenflug hierher verschlagen hat. Im Wust unzivilisierter Gewächse stellen sie eine besondere Verkommenheit zur Schau, kopfstehend zeigen sie fürchterlich zerzauste Kronen, ihre eigenen Wurzeln, die sie aus der Erde gerissen haben.

„Titania“, die Elfenkönigin, ist wieder in meiner Nähe, sie weist auf das Eis zu meinen Füßen. Das Eis leuchtet auf, und plötzlich ist sie neben mir auf dem Eisberg. Vielleicht wird doch noch alles gut. Raketen schießen in den Himmel. Barbara Stanwick zwinkert die Tränen weg. Wir haben noch einmal die große Ballszene, die Illusionsmaschine machts möglich und Johnny Depp ist unter den Passagieren. Ich gebe dem Regisseur ein Zeichen. Er richtet es ein, dass Johnny Barbara zum Tanzen auffordert.

Der Wunderbare führt sie zur Mitte des Ballsaals und flüstert: „Wenn mein Nachname für Sie kein Problem darstellt.“ Während sie tanzen, meint Barbara: „Sie sehen nicht wie ein geistig Behinderter aus, mein Freund. Wissen Sie, Dostojewski hatte vor, einen Roman über einen völlig guten Menschen zu schreiben. Es gelang dem Dichter auch, so eine einfältige Gestalt zu erschaffen, doch kam er dabei nicht ohne Gegenpartei aus. Sie, Johnny Depp, sind  ein besonderer Tor. Sie sind vielseitig, besitzen sowohl die vornehme Gestik William Blakes, als auch, Gott sei Dank, die eines schießwütigen Teufels.“

Johnny Depp lächelt. Dann löst er sich unversehens auf, denn leider hat er in einem anderen Film zu tun. Ich merke ihn mir auf jeden Fall vor. Wenn die „Titanic“ wieder untergeht, könnte Johnny in genialer Einfachheit das ganze Orchester ersetzen. In meinem hitzigen Traum sehe ich ihn schon vor mir, er steht auf der Brücke und spielt Maultrommel oder etwas Ähnliches. Denn die Geschichte geht ja weiter und weiter und weiter…