Heimweg vom Kino

Wie siehst du denn aus? Das Glas der Kinopassage spiegelt unwahrscheinlich, da sehe ich nichts. Mit diesen Augen. Ich brauche sie noch, denn es kommt noch was nach, das jedenfalls sehe ich.
Der Film ist vorbei, ich weiß nicht, um was es ging. Hab ihn auch nicht wegen der Story ausgesucht, sondern wegen der Adresse „Mittlere Bleiche“. Irgendwie lag das günstig. Der letzte Tag, da tut man sowas. Sie tut sowas. Beim Weiterschlendern geht sie nicht gleich zur Wohnung zurück, sondern in Richtung Innenstadt. Wie es aussieht, wird sie einen Umweg machen. Es spielt keine Rolle, etwas Zeit ist noch vorhanden. Die Ufer sind aber abgebrochenen und die Kinokarte weggeworfen.
Der Film ist an mir vorbei gelaufen. Ich habe mich nicht gelangweilt und bin nicht enttäuscht. Es war nur Zeitvertreib, bei dem kaum Zeit vergangen ist. Immer noch herrscht der frühe, nervige Nachmittag. So bald werde ich keinen Film mehr sehen, morgen werde ich auswandern. Sie versucht sich an die Handlung zu erinnern, nur der Titel fällt ihr ein. Doch darunter kann sie sich nichts mehr vorstellen.
Ich stell mir gar nichts vor, hat sie sich gesagt, nicht die Reise, nicht die Zukunft auf der Parzelle, die sie dem Verwandten in Kanada abgekauft hat. Das kleine Haus auf dem geschickten Foto, mein letztes Domizil. Ich lass mich überraschen. „Freddy, die Gitarre und das Meer“ war in dem Kino, das hinter ihr liegt, einmal gelaufen. Um die zwölf muss sie gewesen sein und der Film war gar nicht schlecht gewesen. Seine Kulissenwelt, anhängliches Fliegenpapier, damit ließen sich Zimmer tapezieren. Freddy ist ein toller Junge, die Gitarre klingt spanisch und das Meer ist das Meer. Das Zwölfsein ist ihr so nah, näher als das Fünfundfünfzigsein, nun, wo sie das Alter erreicht hat, in dem der Eine und Andere von der Bildfläche verschwindet.
Wieder begegnet ihr kein Mensch. So geht das schon einige Jahre, dass ihr kein Mensch begegnet. Alle bekannten Gesichter sind auf Nimmerwiedersehen verreist oder ausgestorben, nur sie scheint noch auf Achse. Nur sie und die Stadt, die sie nun hinter sich lässt, indem sie sie das letzte Mal unter die Füße nimmt, der sie tschüss sagen will.
Sperr die Augen auf. Es soll am Strand entlang gehen, wo Maceath gelauert hat. Die Plätzchen dort hat sie sich nicht gekauft oder erarbeitet, alle sind ihr geschenkt und wieder gestohlen worden. Jetzt will sie sich nichts mehr unter den Nagel reißen. Unter die klappenden Augenlider das eine und andere, das schon. Unter den Nägeln brennt es.
Die Kinosääle atmen aus. Nach der ersten Vorstellung stehen die Türen offen, instinktives, kollektives zuende Träumen. Hab ich mir das nicht immer gewünscht? Einer, dem seltsame Fähigkeiten angeboren sind, wie ein Buckel, ein Auswuchs der Natur, starrt um sich. Er sieht alles, weiß alles und fühlt nichts. Wo er etwas Tonmasse oder auch nur Fensterkitt findet, fangen seine Hände zu Kneten an, und schwuppdiwupp ist ein Pferdchen fertig. Menschen gelingen ihm nicht so gut. Bald wimmeln die Pferdchen um ihn, alles bekannte Gesichter.
Aus den unterirdischen Schleusen, über Rolltreppen fahre ich in die überirdischen. Verkaufsabteilung reiht sich an Verkaufsabteilung. Das ist meine Stadt, ich will, dass sie mir zum Abschied winkt. Im Fliegenden Holländer morgen, über den Wolken, werde ich nicht schlafen können, wenn die Stadt mich nicht berührt hat.
Neben der Theke halte ich das Karusell aus lackiertem Draht an, die sich drehenden Titel. Ich nehme einen Thriller zur Hand, eine Kost, die sich wegfrisst wie nichts, spannend, umwerfend, wenn man hungrig ist nach sowas. Nach sowas. Ein Hund läuft über die Straße. Die Autos rauschen wie Samtvorhänge, schleifen den Beton. Der Hund erreicht die andere Seite, es scheint sich aufzuhellen. Diese dekorierten Schaufenster, die ganze Stadt schaut aus den Schaufenstern.
Früher hat sie das geliebt, Straße um Straße reiht sich, kreuzt sich, Passage um Passage. Sie schlendert die Räume entlang und ihr wird klar, in letzter Zeit hat sie sich kaum umgezogen. Das hat Ihnen doch immer so gut gestanden, ruft der Verkäufer von früher, wissen Sie nicht mehr?
Die schlanken Puppen gestikulieren, nehmen sich die Kleidungsstücke vom Leib und aus den Händen, reichen sie weiter, Boutiquenzauber. Das Hin- und Hergehäkelte wird schöner und rätselhaft. Mit diesem Stück sehe ich aus, – ach wie? Besser. Ich spüre den Stoff kaum auf den Knochen. Neben der Kabine sitzt meine tote Tante auf einem Hocker und ruft: Nein, das steht dir nicht. Darüber bist du hinaus. Sie rät mir entschieden ab. Ich rufe, ist schon klar, zwölf bin ich nicht mehr. Meine Tante trägt ihr teures Kostüm, doch sie sieht naturgemäß schlecht darin aus.
Man muss ein Gefühl für sich selbst entwickeln. Leider kann ich das schlecht, kann auch nicht sagen, wie ich aussehe, der Verkäufer steht zwischen mir und dem Spiegel. Was er kauderwelscht, vergesse ich sofort. Es ist aber erwiesen, dass man sich in neuen Sachen besser fühlt. Die Puppen blicken ganz lebendig, als ich ordere, und packen begeistert ein und ein. Einen Café?, fragt der Boutiquenmann, doch meine Tante will den belebenden Schwarzen woanders mit mir trinken.
Sie ist eindeutig die Städtchengeherin und insbesondere die Caféhausgeherin gewesen, über viele Jahre. Überall hat sie ihre Schwätzchen gehalten. Dann hat sie keinen Bekannten mehr getroffen, keinen vom früheren Büro und keinen, der übers Büro bescheid wusste. Aus dem Büro rief man sie überhaupt nicht mehr an. Sie ging noch ins Café, bestand darauf, dass darüber geredet wurde, wartete darauf. Dann muss man sie aus den gemütlichen Zimmern rausgeschmissen haben, weil sie sich überhaupt nicht gemütlich benahm.
Sie hat ihren Mund nicht gehalten. Als ihr kein bekanntes Gesicht mehr begegnete, hat sie die Gewohnheit angenommen, Leuten was zu spendieren, Alleinsitzenden. Wenn sie mal das unverhoffte Glück hatte, dass ihr doch noch eine alte Kollegin oder eine ihrer Nichten über den Weg lief, schleppte sie sie an ihren Tisch und rief Sachen wie: Der armen Sau da drüben hab ich auch schon mal einen Kaffee, ein Stück Torte bezahlt. Die Besitzer der Cafés ahnen natürlich, welche armen Säue in ihren Häusern versammelt sind. Die Tante mit ihren angesparten Kröten gehört zu den ärmsten. Doch sie hat sich unbeliebt gemacht. Man ist in den Caféhäusern auf jeden besetzten Platz angewiesen.
Es ist nicht einfach für Tante und Nichte einen Kaffee trinken zu gehen. Wir stehen schließlich bei Tschibo, an einem runden Tischchen und belauern die Straße. Meine Tante kennt keinen Latte Macciato und trinkt den üblichen Milchkaffee. Sieh mal, sage ich, und ziehe das Foto, mein letztes Domizil, aus der Tasche. Ich sage, dort feiern sie Weihnachten wie nirgendwo sonst. Sie schaut groß. Ich sehe ihr an, dass sie es nicht versteht, dass sie niemals dorthin mitkommen würde. Plötzlich will sie gehen. Ich sehe, wie sie durchsichtig wird, sie kann ihren Platz nicht behaupten, eine Art von Inkontinenz oder Traurigkeit erfasst sie, die Momente ihrer Erscheinung werden flüchtig. Leb wohl, möchte ich rufen, sage aber, bleib wie du bist. Sie hätte bleiben sollen.
Die Stadt -, ich bin so vereinzelt ohne meine Tante. Das Kino der Engel und Teufel, das Feuer von Himmel und Hölle, der Gegenwart und der Vergangenheit, wer will und kann das schon alleine, ich meine, in einer singulären Person, aushalten? In den Gebäuden, aus denen sich die Stadt zusammensetzt, sind doch noch Wesen vorhanden, in Kirchen, Schulen, Mietwohnungen und Kneipen haben sie Stellung bezogen. Ich hole das Bild vom zukünftigen, letzten Domizil hervor, Das Domizil wartet nicht gerade auf mich. Ich will es vergleichen mit den Wesen und Räumen, die mich heute noch umgeben.
Die Gesichter sind abgetaucht. Ich habe sie nicht angeklagt, doch es gelingt nicht, sie hervor zu locken. Die Häuser stehen um den Münsterplatz, sie sind nicht schön, der Platz ist wie für immer verbogen und das Wasser der Kanalisation wird mir unter den Füßen weggezogen. Im roten Sandsteinquader wartet das Proviantamt auf Proviant. Man kann sich selbst bedienen und die Kellner in Souterrain und Erdgeschoss bringen Getränke vorbei. Das Restaurant läuft, die Kellner bewegen sich nachlässig, die Getränke sind über Zimmertemperatur, was nichts besagt. Viel Fleisch auf den Tellern, viel Fleisch auf den Stühlen. Das Licht halbiert manche Gestalten, die Halben stehen auf, begleiten mich ein Stück, als ich vorbeiflaniere, sie halten Abstand.
Sie gehört zu den Berufstätigen. Sie wird am besten den Bus nehmen, die Linie fährt über den Stadtpark hinaus zur alten Akademie. Ihr ist eingefallen, dass sie dort noch einen Termin hat. Er ist ihr lieb wie ein Kinobesuch, denn er füllt die nicht vergehende Zeit. Heute muss sie die Prüfungen, die anstehen, nicht abnehmen, auch kein Protokoll führen, nur beisitzen. Als man sie schriftlich in Kenntnis setzte, schrieb sie zurück, ihr Bündel für Kanada sei schon geschnürt, übermorgen sei sie weg. Doch man schrieb ihr erneut, das sei kein Grund, nicht zu erscheinen. Prüfungen hörten nie auf, ob sie das nicht wisse.
Der Blick geht in jene Nebenstraße, in der „Die letzte Vorstellung“ lief, ein Schwarz-Weiß-Film. Sie war voller Erwartung gewesen und hatte das Warten gehasst. Sie kann nicht warten, muss es jedoch, gelernt hat sie es nie. Der Bus will nicht kommen. Weder das Warten, noch sie spielen eine Rolle, langsam vergeht die Müdigkeit.
Der Bus kommt und da ist ein freier Platz. Bei den Spielplätzen steigen Kinder zu, direkt von der Wasserrutsche, bis auf die Haut durchnässt. Die Akademie am Pulverturm, ich wusste kaum noch, wie sehr sich die Anstalt als treppengespickte Wehranlage aufspielt und sich gleichzeitig total vergisst. Da sind mehrere Höfe, auswärts und einwärts gelagert, alles tausendmal abgezeichnet, immer wieder vorhanden. Das riecht nach blühenden Rosen und ausgetretenen Pflastersteinen. Ich bin umgeben von einer Unterhaltung in Insektensprache.
In einem der äußeren Höfe lungert eine Gruppe Mädchen und Jungen. Einige werkeln an Fahrrädern, die an der Mauer lehnen. Sind das die Prüfungskandidaten? Sie sind wie ohnmächtig vor den Drahteseln in die Knie gegangen. Andere hocken mit hängenden Schultern, das entspannt, sie atmen flach. Ihre Körpersprache tastet nach mir, unstet lauernd, wie Schmetterlinge, die erst spät aus der Verpuppung schlüpfen. Vor ihnen stehen einige Aufrechte. Doch auch deren Blick ist nicht festzuhalten. Sie verlagern ihr Gewicht von einem auf den anderen Fuß. Etwas ist in ihren Augen, eine tierische Furcht. Diese Furcht lässt die Hockenden aufspringen, wie ein unverschämtes, nicht für möglich gehaltenes Talent. Zwischen den Körpern der Kandidaten rollen leere Plastikflaschen. Es ist heiß, halbnackt tropfen Minuten in die Schatten des Burghofs.
Dies sind die Diesjährigen. Sechsundwanzig hat man nach der Mappendurchsicht zur dreitägigen Aufnahmeprüfung zugelassen, und jetzt, es mag gegen vier Uhr sein, soll ihnen das Ergebnis verkündet werden. Da steht es, auf dem Schild, nicht größer als eine Speisekarte, in einer Art Notenständer hinter Glas. Der Ton eines verhexten Augenblicks ist angeschlagen. Kaum einer will auf ihn wirklich hören, doch alles drängt sich. Das Hecheln der Herzen mündet in einen gemeinsamen Takt, und die Mauern werfen das Bündel aus Herzschlägen zurück. Ich staune über die Wucht der Hoffnung,
Was lässt sich da machen? Ich muss in diese Wände hinein, über Treppen, muss mich kundig machen. Ich, sie, die penetrante Hoffnung. Man sagt, die Jungen hätten das Leben noch vor sich. Der Termin tickt im Kopf und ich erinnere mich wie eine Blinde, das Wort heißt Sekretariat.
Sie möchte fragen, in welchem Zimmer sie den Beisitz wahrnehmen muss, deshalb sei sie gekommen. Die Sekretärin starrt in den Computer, will sich nicht ablenken lassen. Man hört das Geklapper von Bestecken aus der Caféteria, das klickende Schnappen von Feuerzeugen. Die Sekretärin sucht im Computer, und sie hat Zeit, durchs Fenster in den kleinen Innenhof zu schauen, mit der tonigen Erde, mit leeren Skulpturengerüsten, mit der Handvoll ausruhender Altsemestler auf Eisenstühlen, rauchend. Keiner erwartet dort eine Prüfung.
Die Sekretärin hält mich für eine der Ehemaligen, die Grußworte an die neu Aufgenommenen richten sollen. Sie sagt, also gehören Sie zu den Glücklichen, die in Pension leben? Lächelnd streckt sie die Hand aus. Haben Sie eine Abschrift Ihrer Gedankennotizen? Die hätte ich gerne, fürs Archiv. Sie sagt: Zimmer hundertneun.
So ist das also, ich kann nichts mehr behalten. Ein Missverständnis. Was soll ich den Neuen denn sagen, was sie nicht schon wissen? Dass es enorme Mühe macht zu bleiben, und dass man am Ende ans Auswandern denkt?
Nun erfahre ich aber Neueres. Etwas ist ersatzlos abgesagt. Ich suche in den Taschen nach Notizzetteln, glaube mich an Stichworte zu erinnern, nicke in Richtung der Sekretärin und gehe, wieder über Steinpflaster, wieder Schweißgeruch, ein anderer, größerer Innenhof, von drei Seiten überdachen ihn zur Hälfte Mauervorsprünge. An den Mauern, im offenen, nun regnerischen Bereich, eine Ausstellung von Zwischenergebnissen oder anderes, das schwarze Brett mit Suchmeldungen, Nachhilfeangebote, Skizzen für Eingeweihte, Lagepläne.
Vielleicht hat sie sich zurück entwickelt, hat etwas vergessen. Nur deshalb ist sie hier. Es muss der Tag der offenen Tür sein. Zwischen den Menschen, die die oberen Geschosse füllen, kann man auf Suche gehen. Die großen, heute einzusehenden Mappen liegen geöffnet auf den Tischen, einige Altsemestler tragen sie noch wie riesige Bücher vor sich her. Man diskuttiert, die Familien und Angehörigen, die zufälligen Besucher nehmen keinen Anstoß am Gezeigten. Hunde wuseln zwischen den Stühlen, springen hoch, retten sich vor Tritten auf Fensterbänke. Zwei hocken gefährlich nahe an der Außenkkante.
Die Fünf aus dem Lehm verschmierten Innenhof scharren auf der Treppe, entkommen durch eine seitliche Pforte. Ich sehe ihnen nach, sehe, wie es regnet. Sie heben ihre Mappen über den Kopf, ein Reflex, der bei jedem zu finden ist, der jemals eine solche Mappe besessen hat. Die Kunst schützt sie nicht vor dem Nasswerden.
Es strengt an, die alten Schränke zu durchwühlen. Ich, die Ehemalige, brauche die fehlenden Belegscheine gar nicht mehr, zum Glück. Dieses Getriebe, diese Seminaratmosphäre mit Atemgeschwall wird zuviel. Sie muss zurück und weiter, das letzte Domizil. Regen tropft, die letzten Tropfen. Aus Kneipen dringt Licht, Geister machen Geräusche und Schattengesten, die kleinen Stuben, wie private Lichtspielhäuser. Der Fluss, den der Bus rechts liegen lässt, ist unbeschrieben und unbewohnt an diesem Nachmittag.
Irgendwo müssen die untergetauchten Gesichter Spuren hinterlassen, Münder müssen nicht mehr schlucken, ausspucken. Als sie aus dem Bus steigt, ist es so ähnlich wie beim Wettlauf von Hase und Igel. Der Igel trägt ein Kleid, das seine Stacheln verdeckt. Er duckt sich aber ungewohnt, piepst wie ein Kastrat. Er hasst seine Stimme, tut als ob, rennt durch die leeren Wohnungen, ein kleines, buckliges Männchen versteckt sich. Obwohl es früher trickreich vor allen anderen am Ziel war, ist es nun der Verlierer. Diesmal siegte der Hase, kaum kann der Igel es glauben. Er ist weiter gegangen, als er es je für möglich hielt.
Endlich tut sich die bekannte Passage auf. Gehst du durch dieses Viadukt, hast du viel hinter dir gelassen. Der Schillerplatz war schön zurecht gemacht, lebte noch vom Johannisfest. Im vertrauten Durchbruch, übersäät von Fingerabdrücken, sind die Lichter ausgegangen Der Gang verjüngt sich zum Ende hin. Wie eine verlorene Kugelschreiberkappe betupft, erinnert sie mich mit ihrer Spitze: Du wirst doch mal schreiben, wenn du weg bist? Hier war einmal das größte Kino der Stadt.
Der kurze, dunkle Korridor liegt auf der Seite wie eine dickliche, kurzatmige Frau. Nur scheinbar lässt sie den unwissend Gewordenen passieren. Früher brachte sie ihn auf der andere Seite zur Welt. Alles ist spiegelverkehrt. Der Passant hat nicht mehr vor sich, was er hinter sich gelassen hat. Das Bild der drei gleichen Marylins über der Residenzpassage tanzte in anderen Zeiten über den auf die Vorstellung Wartenden. Es bewegt sich nicht mehr, blättert nur von der Fassade. Das pointillistisch Gewordene winkt den vereinzelten Fans. Früher hat Marylin alle unter ihren Rock genommen. Es ist ein Sommerabend, eine hellgraue Wolkendecke sinkt aufs Trottoir.
Nochmal die Augen aufmachen, dann den Rundgang abschließen. Es darf nicht zu spät werden. Wollte ich nicht nach Hause, noch packen? Sie sieht sich nicht in den Schaufenstern, sie sieht die Auswanderin mit den brennenden Fußsohlen, die mit dem Domizil im Kopf. Die älteren Semester schlendern vorbei, sie haben es mit der Abschlussprüfung nicht eilig. Sie schauen ins Becken mit den Goldfischen im Vorraum zum Rex. Tagsüber machen sie Kunst, abends streicheln ihre müden Hände die Goldfische von einst. Wenn der Film beginnt, streifen sie das Wasser ab und verschwinden in einem der kleinen Theaterlöcher des zerspaltenen Großraums.
Dunkler, geheimnisvoller ist der Dom zu Worms, puristischer der Dom zu Speyer, aber der Dom meiner Stadt hat von vielem profitiert und seine Besucher nehmen die Überarbeitungen hin. Das Gemäuer hat von den Beschädigungen der Jahrhunderte runde Proportionen angenommen. Merkwürdig, wie kalt der Boden bei all den ausschweifend verkleideten Wänden geblieben ist. Keiner, der am Abend hereinschneit, um den Anblick, vielleicht auch die Heizung zu genießen, kann sich hier länger als eine Nacht verstecken.
Dieses Zwielicht in der Höhle hat von südamerikanischen Wäldern, wo Schmarotzerpflanzen ranken, die wie Rubinen glühen, und wo aus den zu Terassen aufgetürmten, felsigen Böden Feuchtigkeit rinnt. Weiß verkotete Kolibrinester plumpsen von den Rippen der Konstruktion, im Fallen werden sie zu einer Handvoll Staub. Die Figuren an den Säulen und in den Nischen sehen Menschen ähnlich und wieder nicht. Manchmal gleicht ihre Haltung mutigen, verstörten Pantern, die sich auf die Hinterbeine stellen, um etwas zu erreichen. Sie strecken sich in stummem Instinkt, brüllen nur nachts mit dem Glockenschlag über das hölzerne Gestühl, wie über die gefährdeten Wälder Südamerikas. Ihre Haut bröckelt, ihr steinernes Herz scheint brüchig. Manchmal möchte man die Panter freilassen, denn draußen fehlen solche menschlichen Körper.
Würden sie freigelassen, humpelten sie über den Marktplatz, mit ihren sensiblen, glasknochigen Gliedern, und ihr seit Jahrhunderten lächelnder Blick würde die Vorrübergehenden anstecken. Sie bleiben aber lieber im Zwielicht der Kirchenschiffe. Dort gehen sie ihrer Verpflichtung nach, zu schweigen. Es sieht aus, als liebten sie ihren Beruf.
Warum muss Abschied genommen werden? Der ganze Film ist doch ein Abschied. Wenn man den Dom verlässt, steht meistens einer verlegen vor einem, ringt die Hände und murmelt vornüber gebeugt, ob man nicht etwas Kleingeld habe für eine Fahrkarte. Es sei ihm so peinlich, doch er habe sich in der fremden Stadt bestehlen lassen, mit einem simplen, uralten Trick. Man könne es gar nicht laut sagen, doch die Situation sei furchtbar. Ob ich das nachfühlen könne. Ich kann es nachfühlen. Da aber hilft nur ein Nein oder besser, man gibt dem Mann das Geld.
Sie bleibt stehen, lässt sich auf das Spiel ein, und sagt, wo wollten Sie denn hin? Warum wollten Sie denn überhaupt fort aus Ihrer Heimatstadt? Der Mann antwortet ihr nicht. Er bedankt sich nur immer wieder, verneigt sich fast bis zur Erde, devot. Sie möchte ihn wegschicken, hat schon auf der Zunge: In zehn Minuten geht Ihr Zug und Sie müssen sich doch noch die neue Fahrkarte besorgen.
Der Mann weist zu einem der Türme, man sieht das Abendrot dahinter. Dann zieht er die Hände in die Ärmel, tritt zurück, so dass sie mit Hilfe seiner Verbeugungen an ihm vorbeigehen kann. Ich spüre, wie es um mich fröstelt, es ist Herbst geworden. Der Mann behält den Vorhof des Doms im Auge, um das nächste Mütterchen, das herauskommt, anzuhalten.
Wie schwer auf einmal die Einkaufstüten werden. Habe ich tatsächlich solche Mengen erstanden? Die Lichter über dem Platz springen an und sie ist dankbar.
Bei der Marktsäule, die sich mitten in der Fläche erhebt, steht der Hund, der auf der mittleren Bleiche den Autos entkommen ist. Es ist ein noch junger, kleiner Hund, seine Erscheinung ist eigenartig, obwohl ich nicht sagen kann, was das Eigenartige ist. Nun sehe ich es, er hat für seine Größe eine monströße Errektion. Sie macht ihn bewegungsunfähig. Mit einem Katzenbuckel und eingeknickten Beinen steht er, jämmerlich versucht er sich auf seine Rute zu stützen. Er weiß nicht, was mit ihm geschieht, weiß nicht ein noch aus. Er schämt sich, so ausgestellt zu sein, starrt zum Fuß des Doms. Dort hat man bereits die lebensgroßen Figuren der Weihnachtskrippe aufgebaut und der große, graue Esel hat es dem Hund angetan. Wie ein feuerrotes gezacktes Schwert leuchtet das Glied des Hundes.
Eine Frau mit einer Maske über Stirn und Augen läuft aus einer Gasse auf ihn zu. Trotz ihrer Maske, die keine Maske sondern eine Kunststoffbrille ist, kann ich erkennen, dass es sich um Dorit handelt, eine frühere Kollegin. Sie sieht aus wie eine Schauspielerin, die Brille ist schuld. Sie ruft den Hund. Er reagiert nicht, doch schon kniet sie vor ihm, knüpft eine Leine an sein Halsband.
Was für ein Zufall, Dorit hier zu treffen. Lebt sie nicht in Hamburg, wo sie Internet-Portale gestaltet? Sie winkt, geht mir voraus. In dem ansteigenden Viertel hinter Filmpalast und Filmpalette ist eine neue Passage entstanden. Ich habe es eilig, an der Säule vorbei, über den Marktplatz zu kommen, sehe endlich, was Dorit sieht. In der neuen gerade erst entworfene Kollektion von Wintersachen betrachten. Dorit fällt auf, wie unpassend sie und ich für die Jahreszeit angezogen sind. Die Zeit ist schneller, als geglaubt, vorangeschritten.
Die Einkaufstüten fliegen, als sie sich weiterdreht. Der Platz liegt hinter uns, ist ein schiefergraues Meer, man erschrickt beinahe. Tatsächlich sind alle Brücken abgebrochen. In den Passagen reden die Verkäufer. Es ist angenehm, sich ihnen zu überlassen, den Mädchen, die einen von Kopf bis Fuß neu einkleiden. Ich nehme auch die Tasse Kaffee, die man mir reicht.
Es geschieht ganz von selbst, dass ich diesen jungen Frauen, die mir zu Freundinnen geworden sind, Namen gebe, denn sie umsorgen mich. Ihnen ist es eine Selbstverständlichkeit. So wird es auch im letzten Domizil sein. Wenn ich ankomme, werde ich für alle Gesichter einen Namen haben. Ich reise schon morgen. Die neue Kleidung ist behaglich. Sind wir am Ende?
Der Winter bringt frühe Dunkelheit. Zu spät aber kann es noch nicht sein, ich will mich bemühen. Winterlich verkleidet, will ich das Rex in den neuen Filmpalästen suchen. Noch eine Vorstellung soll den Nachmittag abrunden. Und die Kinokarte werde ich nicht wegwerfen, sondern zu meiner Fahrkarte stecken, denn man braucht eine Erinnerung.
In den Kneipen und Klassenräumen, den Kirchen, in den Wohn- und Schlafzimmern läuft immer ein Film. Durch die Boutiquen und über die Plätze schallen die Dialoge. Ich weiß, dass man im Keller der Akademie Low-Budget-Filme ohne Drehbuch produziert, ich habe zu Anfang der Chose dabei gestanden. Manche bestreiten den künstlerischen Wert dieser Produktionen, ich gehöre nicht dazu. Warum will man das Wunder nicht wahrhaben? Schritt für Schritt gehe ich unverhoffte Treppen hoch, rieche den Fluss hinter der Terasse. Und da, rechts von mir, stehen sie aufgereiht. Wie ein Empfangskommité, meine Leute.
Dass man das, was einmal war, immer wieder will, ist vielleicht verständlich. Man kann Begegnungen hervorzaubern, déja-vus, sie sind nicht immer erfreulich. Plötzlich siehst du Vogelscheuchen, du erkennst sie nicht mehr, die Unbehausten. Aber sie, die Überfälligen, haben es nicht mehr ausgehalten, dass ihnen keiner, nicht ein Einziger, mehr entgegenkam. Sie gestehen, dass sie ihren Reisepass verlegt haben, er wird wohl irgendwann wiedergefunden werden. Sie wollen ihn jetzt nicht suchen, sie haben nicht an das Kommité geglaubt. Jetzt ist es da.
Hat Dorit die Früheren zusammen getrommelt? Das musste nicht sein, sie sind ganz zufällig mit den besten Vorsätzen gekommen. Sie lachen uns entgegen. Sie lachen deshalb, weil sie alle eine zweite Chance bekommen haben. Dorit sagt, es gibt nicht nur die eine, das ist ein Märchen der allzu Spezifizierten und Asketischen. Du darfst die erste Chance verspielen, da ist immer noch eine zweite. Du musst nur abwarten. Nach dem ersten Reinfall dauert es. Du glaubst nicht mehr dran. Dann aber, unverhofft, ergibt sich etwas. Ob du es willst oder nicht ist ganz egal, die zweite Chance bietet sich. Ich rate dir, ergreife sie.
Raphael, da ist Raphael. Wie lebendig, wie gut er aussieht. Er tritt vor die anderen Engel, nimmt mich fast bei der Hand, nimmt mir die schweren Tüten ab. Du warst einkaufen, sagt er, hier haben wir uns das abgewöhnt. Er beschreibt mit der Hand einen Bogen. Der Bogen umfasst den Domplatz, die Passagen und Kinos. Ein Vorschlag: Du musst nicht, doch du solltest. Es ist besser.
So nah, wie Raphael mir heute ist, ist er mir nie gewesen. Direkt hinter meinen Kollegen haben die Verkäufer aus den angrenzenden Boutiquen einen großen, geschmückten Weihnachtsbaum aufgerichtet. Er strahlt alles an. Dorit, mit dem Hund an der Leine, sagt, der Filmpalast ist zu einem Ibis-Hotel umgebaut worden. Schau es dir an, diese wunderbare Architektur. Ich wende den Kopf und sehe die Fassade, das glühende Entrée. Es gibt keine Drehtür, nur ein riesiges Portal, es steht weit offen. Im Entrée laufen Mädchen mit Tabletts umher, auf denen gezuckerte Pralinen wie kleine Briketts liegen.
Ich spüre den Biss der Winterluft. Viele Augen streicheln meine Wangen. Komm, rufen sie. Der kleine Hund meiner Kollegin, in Kanada hätte er den rechten Auslauf, könnte sich dort gut beschäftigen. Tagelang würde er der Spur eines Verirrten im Schnee folgen, ihn mit Freude aus einer Verwehung graben. In Kanada.
Der Hund hechelt, legt mir etwas vor die Füße, betupft meine Hand. Seine Schnauze ist wie die spitze Kappe eines Kugelschreibers, er hat den verlorenen Reisepass wiedergefunden. Raphael nimmt ihn und sagt, den brauchst du nicht mehr. Du musst nicht fahren. Hier, im „Ibis“, feiert man Weihnachten, vielleicht anders als in Kanada, doch du solltest es dir ansehen. Wir alle sind schon da gewesen. Es wird dir gefallen. Niemand hat etwas dagegen, wenn man sich ausruht, nach diesem jahrelangen Herumgelaufe, denn man hat sich das Hinlegen verdient. Die Zimmer sind bequem, du kannst vom Bett aus alles verfolgen, alles ist beleuchtet.
Ja, ich nehme mir im „Ibis“ ein Zimmer. Weihnachten drängt sich nicht auf, leise beginnt es. Wann wird es enden?
Mit zwölf habe ich auch nur Silberschmuck an der Tanne haben wollen. Mächtig, alles überragend steht der kerzengerade Nadelbaum im ersten Stock des Hotels, vor Panoramascheiben, und schaut auf den Fluss, auf dem Eisschollen treiben. Zu ihren Füßen, diese Gesellschaft. Ich kenne die Frauen, denke ich, während ich an den Panoramascheiben entlang gehe. Da zieht man mich am Ärmel und ruft: Bitte, sagen sie doch einen Gruß und ein Dankeschön an Ihre Tante. Sie hat uns damals manchen Kaffee bezahlt. Ich lächle, es ist mir ein wenig peinlich.
Vielleicht wandere ich tatsächlich nirgends hin aus, nur in dieses Bett, das an der hellsten Wand in einem der bequemsten Zimmer im „Ibis“ für mich bereit steht. Das Kopfkissen ist von wohliger Rauhheit. Vor dem Fenster ist es wie in Kanada, und ich beginne mit dem großen Schlaf. Ich kann gar nicht anders, als diese zweite Chance zu ergreifen.