Blaurote Reiter

 Romanausschnitt

Der unverhältnismäßig heiße Tag

Der unverhältnismäßig heiße Tag dehnte sich und machte es allen schwer. Er schmolz die Gehirne zusammen, die vorhandene innere Hitze wurde von der äußeren höher und höher getrieben, und Schweiß brach aus, der nicht zu kühlen verstand. Doch an Hitzefrei war heute, am 22. Mai, nicht zu denken, denn diese Notmaßnahme durfte nicht überhand nehmen, zumal sich die Schulleitung den Temperaturen in diesem Jahr bereits zweimal gebeugt hatte. Die vierte Stunde wollte kein Ende nehmen.
Dr. Mohrs, der immer auf ein außerordentliches Naturereignis lauernde Biologe und Chemiker, atmete schwer und schielte in die Winkel des Raumes, wo sich Wirbel fiebriger Luft verfingen, die sich zu einem dunklen Krabbeltier im Abfallkorb zu materialisieren schienen. Schließlich, als Mohrs von den Bänken her signalisiert wurde, dass man soweit war, sammelte er die ausgefüllten Fragebögen ”Über die Gründe für das Aussterben von Pflanzen und Tieren im Holozän” ein. Er hatte die Fragen so angelegt, dass die Schüler ihr Faktenwissen stichwortartig eintragen konnten. Es war darin eine knappe grundsätzliche Stellungnahme vorgesehen, die die Zeit davor, sowie die zukünftige umfassen sollte. Alle waren zutiefst erschöpft, und der Schweiß ließ die Gesichter ungewöhnlich glänzen, denn die Sonne brannte unerbittlich in den Seitenflügel, in dem die neunte Klasse untergebracht war.
Mohrs hatte die Klassenarbeit, für ihn ungewöhnlich, lange hinausgeschoben, weil die Neunte sich in den letzten Wochen unwillig und unfähig gegeben hatte und trotz aller Unterstützungsmaßnahmen nur sehr langsam vorankam. Das vorgegebene Pensum musste jedoch geschafft werden. Nun hatte die Arbeit einfach sein müssen.
Als er sich mit dem Papierstoß wieder auf seinen Platz fallen ließ, die Klasse ihn um Entlassung bittend ansah, er aber den Blick nicht von den Papieren nahm und eine Minute lang die Höhe des Stapels schätzte, entschlüpfte ihm eine Bemerkung. Er klopfte auf die Schülerarbeiten, und meinte, er hoffe, heute Nachmittag auch von den positiven Möglichkeiten der Eiszeit, als einer Stunde Null, lesen zu können.
Daraufhin entstand ein Murren. Deutete Mohrs da eine seiner superschlauen Fallen an, eine, die keiner in den Fragen entdeckt hatte? Das Murren begann in der hinteren Reihe und setzte sich schnell fort. Eines der Mädchen, auf dem Platz direkt vor ihm, dessen Selbsbewusstsein durch die Eltern gestärkt und gefördert wurde, und das sich durch die unmittelbare Gegenwart des Lehrers keineswegs irritiert fühlte, sagte, Mohrs habe nicht ausdrücklich nach so etwas gefragt. Sowas jetzt einzufordern, sei unfair.
Jeder im Zimmer war dieser Meinung. Das Murren verstärkte sich. Mohrs stöhnte auf, und sein Blick ging dem Murren bis zum letzten Schüler nach. Einer hatte sich an der Rückwand um entscheidende Zentimeter von den anderen separiert und schaute, an den Rauputz gelehnt, aus dem Fenster. Sonnenturbulenzen, ausglöst von außergewöhnlich starken Erruptionen, machten sich mehr und mehr im Raum bemerbar, doch Mohrs erhob sich und wandte sich an Einen, der zu den Schwächeren gehörte. Er fragte ihn, was er von der Stunde Null halte, erhielt aber keine Antwort, hörte nur ein Grunzen, was seinem Stöhnen fast gleichkam.
“Denkt nur mal an das Ende des zweiten Weltkriegs”, rief er, “wir sprechen da ebenfalls von einer Stunde Null.”
Heute hatte er mit seinen Winkelzügen kein Glück, in diesen Augenblicken allgemeiner Erschöpfung schien er nicht verstanden zu werden. Mohrs setzte sich wieder. Überall sah er klebrige Finger Füller zuschrauben, Kugelschreiber rollten zurück in Mäppchen, und Farbstifte, die für Schaubilder und Tabellen eingesetzt worden waren, verschwanden ebenfalls von den Tischen. Danach erloschen alle Aktivitäten.
Mohrs gab nun einige Male das jedem bekannte Schnalzen von sich, in dem Verschiedenes zusammenkam, Träume, Vorstellungen, Sehnsüchte. Seine Gedanken verließen die momentane Situation aber nicht, schweiften kaum ab. Ein wenig fühlte er sich bereits befreit. Ja, auch er sehnte sich nach Freiheit. Frei sollten Informationen fließen und frei aufgenommen werden. Wenn man sie nur richtig, leicht genug eingab und ihnen freie Bahn schuf, mussten sie alle Köpfe erreichen.
Beim letzten Schnalzen fühlte er sich von dieser Vorstellung ganz ergriffen, man kannte das an ihm. Die Klasse scharrte mit den Füßen, um ihn aufzuwecken und seine Augen blinzelten. War dies das Aufbruchssignal?
Wenn Mohrs aber von einem Thema ergriffen wurde, kam er gerne ins Reden. Auch im Lehrerzimmer neigte er zum Monologisieren oder stellte unlösbare Rätselfragen. Nun, kurz vor dem Klingeln, trat er zu einem Mädchen, das seine Sachen wie alle bereits eingepackt hatte und dessen Kopf gerade wieder von Aktivitäten bei der Schultasche am Boden über der Bank auftauchte. “Hör mal, Nadine, du weißt das doch. Stell dir vor, die Welt ist über dir zusammengebrochen und dein halbtoter Nachbar hat dir dein letztes Brot gestohlen. Die Situation ist mit einer Stunde Null zu vergleichen. Was würdest du tun?”, fragte er.
Sie schwieg, er aber schaute unnachgiebig. Nadine war eine der besten, hatte Ideen, da konnte er etwas erwarten. Endlich öffnete sie den Mund. “Puh”, machte sie und stieß heiße Luft aus. Sie rieb sich die Stirn und meinte: “Eine Stunde Null? Es geht hier wohl immer noch um die Eiszeit. Gut, dass Sie mich an die Gefahren des Kühlschranks erinnern. Ich bin so aufgeheizt, da würde ich mich zuhause fast rein setzen. Hier werde ich mich schnellstens auflösen, das können Sie mir glauben.”
Nadine hatte sich nicht zurückgehalten, und ihrer lauten Stimme antwortete ein schwaches Gelächter – die Klasse war noch vorhanden. Nun aber stand man einträchtig auf, und Mohrs wusste, das sich der Klientel in diesem Moment niemand in den Weg stellen durfte. Eigentlich, dachte er, ist diese Arbeit unter unkorrekten Bedingungen geschrieben worden, bei diesen Temperaturen müsste gerechterweise zu jeder Zeit des Jahres Hitzefrei gegeben werden.
Zum Glück kingelte es, und der Vormittagsunterricht ging regulär zuende. An diesem Tag hatte sich niemand in der Lage gefühlt, Mohrs hintersinnigen Anmerkungen Aufmerksamkeit zu schenken. Er würde es der Klasse nicht nachtragen, jeder wusste, dass der Physiker immer versuchte, fair zu sein.
Am nächsten Tag, bei etwas kühleren Temperaturen, machte der Spruch von der “Stunde Null” vor allem im Lehrerzimmer die Runde. Mohrs selbst musste wohl davon gesprochen haben. Zu Kessler drang eine verschärfte Version, in der die gewitzte Nadine den spitzfindigen Mohrs trotz oder wegen der Hitze zum Abbruch des Tests veranlasst haben sollte.
Die zweite große Pause zwischen vierter und fünfter Stunde hatte begonnen. Kesslers Pensum für diesen Tag aber, den ersehntesten der Woche, war geschafft. In seinem Brieffach fand er ein fotokopiertes Blatt über Neuregelungen, die die Klassenlehrerin der 5c für alle in dieser Klasse Unterrichtenden verbindlich machen wollte:

An die Fachlehrer der 5c,

Könntest du / könnten Sie damit leben, dass ich / wir
– eine Sitzordnung herstellen, in der jeder Schüler jeden anderen Schüler sehen kann, ohne sich umdrehen zu müssen? (Karree mit integriertem Pult; für die, die mit dem Rücken zur Tafel sitzen, wird eine Lösung gefunden)
– die erste Sitzordnung per Los ermitteln
– einen leisen und schnellen Sitzkreis ermöglichen (Stuhlkissen!)
– ein einheitliches Ruhezeichen (Hochgehobene Hand, Handfläche zu Schülern) einführen ?
Stellen Sie in den Fachräumen bitte die gleiche Sitzordnung oder eine vergleichbare her.

Die anderen Vorschläge und Aufforderungen der Klassenlehrerin, in sechs Punkten aufgelistet, endeten knapp über dem unteren Rand der Blattrückseite.
Kessler überflog sie alle und sah sich dann noch einmal den ersten Punkt an. Er unterrichtete die 5c, wie vier andere Klassen auch, in Saal 2. Die schweren Werktische dort, konnten nur mit großer Anstrengung bewegt werden. Einige seiner Zwölfer hatten im letzten Winter versucht, die Tische zu einem improvisierten Adventsstündchen um ein Lagerfeuer aus drei Kerzen zu versammeln, hatten es aber schnell aufgegeben, denn die Herumwuchterei hatte sie zu sehr angestrengt. Auf andere Weise hatte man es dann fertig gebracht, Intimität zu erzeugen.
Kessler überlegte, kam aber auf keine Lösung, wie er oder die Fünftklässler es anstellen könnten, aus den gewichtigen Tischen ein Karree oder einen Kreis zu bilden und dieses Gebilde am Ende der Doppelstunde wieder aufzulösen und der nachfolgenden Klasse den Raum wie zuvor zu hinterlassen. Auch verboten, seiner Meinung nach, die Raumproportionen eine solche Sitzordnung. Und was würde es denn bringen, wenn jeder jedem ins Gesicht sah? Wenn man wie so oft auf Klamauk aus war, würde dieses direkte vis à vis für besondere Ausgelassenheit sorgen. Und wenn Einer seine Arbeit erklären und dafür aufstehen sollte, würde er, der Reaktion seiner Mitschüler über das normale Maß hinaus ausgesetzt, um Fassung ringen und sich durch die erzwungene Konfrontation bis aufs Hemd blamieren können. Diese Situation, die direkte Gegenüberstellung des Einzelnen mit der Allgemeinheit, würde die Atmosphäre belasten. Beim künstlerischen Arbeiten saß man in der Regel über die Zeichenblöcke oder andere Materialien gebeugt. Konzentration war erwünscht, und der visuelle Kontakt mit den Mitschülern lenkte eher ab, ja das Gelingen der Arbeit wurde behindert. Um sich zu informieren, auch zu komunizieren erlaubte Kessler hin und wieder Rundgänge Einzelner.
Kessler schrieb zwei Sätze zur Situation im Kunstsaal auf den Rand der Neuregulierungsvorschläge und legte das Blatt ins Brieffach “Hofstaeter”. Der Kollege, der allen immer explizit „Einen wunderschönen guten Morgen“ wünschte, wenn er das Lehrerzimmer betrat, bekam dies mit. Auch er hatte gerade das fotokopierte Blatt von Frau Hofstaeter entdeckt und nickte Kessler wissend zu. Wie an jedem Tag trug er ein T-Shirt mit dem Aufdruck seines morgendlichen Begrüßungsslogans auf dem Rücken, wahrscheinlich besaß er diese Shirts in Zehner- oder Zwanzigerauflage. Kessler erwiederte seinen lautlosen Gruß, wollte keine Zeit verlieren und möglichst rasch nach Hause. Man drängte aber in diesem Augenblick ins Lehrerzimmer, und so konnte er es noch nicht verlassen.
Natürlich hatte der freundliche Kollege recht, wenn er durch sein unüberhörbares Guten-Morgen-Sagen die Stimmung in der Frühe verbessern wollte, jeder hatte ja die Absicht, einem neuen Tag möglichst positiv zu begegnen, fühlte sich jedoch nicht immer dazu in der Lage. Jetzt war der Morgen fortgeschritten, und Kessler spürte die auch durch die Hitze aufgeladene Atmosphäre.
Wie oft dominierten in diesem Raum Erregung und Ärger, wie selten sah man Begeisterung. Tag für Tag tauchten dieselben Gestalten auf, alles entsprach dem Muster, die Ereignisse des Morgens, die als Gerüchte aufgetaucht waren, hatten kaum mehr Neuigkeitswert. Natürlich gab es Ausnahmen. Manchmal kam es vor, dass überraschende Ideen vorgestellt wurden, dass sich das Überraschende sogar häufte. Alles schien plötzlich möglich und fast spottbillig zu haben. Bunt und günstig erstellt wie ein Trashfilm, eine Serie mit tausend Folgen, open end, Kessler sah es expressionistisch funkeln. Alles war vorstellbar, konnte wie auf Knopfdruck geschehen. Die Dramaturgie der Neuwerdung wurde deklariert, doch bei der Umsetzung haperte es dann zunehmend. Die neuen Wege stellten sich als schwierig, dann als unbegehbar heraus.
Um ihn das Stimmengewirr der zweiten großen Pause. Der Raum wimmelte von Kollegen und Referendaren, es würde nicht leicht sein, sich bis zur Tür zu kämpfen. Die Fachkollegin Mara räumte auf dem langen Tisch, der die Längsachse des Raumes, die sogenannte ”Wirbelsäule”, bildete, Heftstapel beiseite. “Hierher”, rief sie ihm zu: “Hier kannst du deinen Kaffee abstellen.” Dann erst sah sie, dass er keinen Becher in der Hand hielt…