Auszug „Carylor muss Krieg führen“

Carylor, der Präsident, fand in den meisten Nächten keinen Schlaf. Schon nach kurzer Zeit, nachdem er sich zurückgezogen hatte, bestellte er seinen Sekretär oder einen Adjunkten zu sich, und diese mussten sich in Reichweite auf den Rand seines Bettes setzen, um auf Order zu warten. Wenn er dann den Mund öffnete, kam alles dicht gedrängt, die Botschaften überlagerten sich. Manches wirkte aus dem Zusammenhang gerissen oder verschlüsselt. Die Dienerschaft wusste, diese Worte waren auf keinen Fall für fremde Ohren bestimmt.
Der Präsident maß seinem Redefluss, der sich vom ausgebliebenen Schlaf und der Sehnsucht danach manchmal fast trunken anhörte, große Bedeutung bei. Doch unvermittelt konnte er sich auf die Lippen beißen, und während er das Blut vom Mund saugte, murmelte er, bestimmten Klauseln in der Satzung müssten noch Reifezeit eingeräumt werden. Er drehte sich zur Wand und scheuchte mit der unter seinem Körper hervor tastenden Hand die Herbeigerufenen davon. Das Tasten und Scheuchen strengte ihn an, seine Hand erschlaffte schnell und lag bald wie leblos.
Einschlafen konnte er immer noch nicht. Er veränderte unter Aufbietung aller Kräfte mehrmals seine Lage, streckte sich auf dem Bauch aus, auch auf der rechten und linken Körperseite, ohne Ruhe zu finden. Fast immer rief er dabei nach seiner Mutter. Sein Verhalten beunruhigte niemanden, es gehörte zu einem Ritual, das man bereits an ihm kannte. Wenige Minuten später wurde erneut nach dem Sekretär gerufen, und kurz danach rauschten juristisch einwandfrei abgefasste Satzfolgen, dermaßen perfekt komponiert und an manchen Stellen fast poetisch, von Satellit zu Satellit und von Adressat zu Adressat, dass man erbleichte.

Atla
Nun, als ich die Augen öffne, ist alles wie es war und doch anders. Es muss geschneit haben. Über Farne und Moose, das herabhängende Unkraut schweben die Flocken, weichen aus, als ich die Hand ausstrecke, Äste aus Eis ragen aus dem Unterholz, Reif knackt unter dem Fuß, wird Asche. Ich bahne mir einen Weg durch zerbrechliche Büsche. Vor meinen Augen, vielleicht durch die Furcht in diesen Augen, taut das Weiß und wandelt sich zu blassem Grün.
Ich komme zu einem offenen Platz, der Bühne. Ich warte, doch keiner meiner Schauspieler lässt sich blicken.
Übersehe ich sie etwa? Die sind mir alle noch vor einer Woche nachgelaufen, haben mir an den Lippen gehangen, um zu lernen, von mir, der Schwester des Präsidenten. Die haben getan, was ich wollte. Doch die Jungvögel müssen inzwischen fliegen gelernt haben, und die Käfer sind alt geworden. Ich rufe:

Meine lieben Kinder
Ich habe euch nicht vergessen
Bin nur für euch geboren worden
Verzeiht mir wenn ihr könnt

Wenn ihr könnt verzeiht mir
Ihr wart so unwissend
Da habe ich euch bestohlen
Kaum habt ihr es bemerkt

Wenn ihr könnt verzeiht mir
Ich habe Mauern gezogen
Eure Flügel gestutzt
Da konntet ihr nirgends hingehen

Behauptet wurde vieles
Das hat euch den Kopf verdreht
Ja ich wurde mal wie ihr geboren
Doch für wen für was

Wenn ihr könnt verzeiht mir
Eure Unschuld ist nun bewiesen
Und ich will mich davon machen
Bestimmt ihr mein Gefängnis

Wenn ihr könnt verzeiht mir
Man soll euch nie mehr für naiv halten
Ich habe euch belogen
da habt ihr mich nachgeahmt

Wenn es möglich ist verzeiht mir
Denn ich will die Strafe antreten
Die ihr über mich verhängt
Will euch für immer euch selbst überlassen

Behauptet wurde vieles
Alles gelogen
Ein Heim habe ich jetzt nicht mehr
Alles verbrannt

Verzeiht mir wenn ihr könnt
Und zieht mir den Giftstachel

Orin, Malvet, Viola

Malvet fragt was, und ich nicke. Also das Ganze nochmal von vorn. Sie zeigt mir nicht ihre Schulter, dabei soll die Narbe interessant sein. Ihre Nummer am Rippenbogen wippt vor mir, ich zähle die Ziffern zusammen – seltsame Quersumme. Wieviel Zeit bleibt uns noch?
Malvet sagt, genügend. Lenk nicht ab. Ich geb dir was zu tun, sei dankbar dafür, Grübler. Doch mein Gehirn rattert weiter. Früher habe ich bei den Programmierern gearbeitet, dachte mir neue Wege aus und habe sie auch gefunden. Ich war fit. Da kamen die „Vernünftigen“ und haben mich überredet, zu ihnen zu wechseln. Vielleicht war es nicht in Ordnung, so früh bei den Theoretikern aufzugeben und zu den Ausführenden zu wechseln. Sie haben mir den Job im Außendienst schmackhaft gemacht. Willst du ewig einer sein, der nur Plänchen und Vorschläge macht, rief man. Ist dir sowas lieber, als Tatsachen zu schaffen? Du bist doch aus unserem Holz geschnitzt. Du kannst doch kämpfen.
Kann ich. Kann ichs etwa nicht? Sag selbst, Malvet. Treibs nicht zu arg, du reißt mir die Haut auf. Marion und die „Ungläubigen“ warten schon auf uns, ich freu mich auf sie, da brauch ich jeden Tropfen Blut. Dieses Mal werden wir sie niedermachen, wie Ratten, wie Katzen. Glaub mir, die Mission ist nicht heikler als die davor. Soundsoviele Blitzkriege, da verliert man nicht mehr so schnell den Kopf, meiner sitzt jedenfalls fest. Bin mir sicher. Auch wenn Marion mehr als doppelt so viele Männer in petto hat, kann ich damit umgehen. Wenns wirklich mal hart kommen sollte, werde ich einen Boten schicken und um einige deiner Frauen nachfragen. Dann tu nur nicht so, als hätten wir nicht ausführlich drüber gesprochen.

Malvet denkt: Wovor hat der starke Junge nur Angst? Nie würde sie einen Angsthasen so nahe an sich heran lassen, aber etwas warnt sie. Hatte die andere Seite Orin vielleicht eine Offerte gemacht, dass er doppelgleisig fuhr? Ach, bei einem solchen Typen stießen die doch auf Granit.
Malvet war davon überzeugt, wollte nicht weiter rätseln, ließ nicht ab von den tief sitzenden fünf Nummern auf dem Männerkörper, die ihr so gut schmeckten. Olivers Jacke war aus Menschenhaut gemacht, das hatte der ihr gestanden.

Als er erwachte, lag er allein. Kalter Wind berührte ihn, es war wohl noch früh am Morgen. Dennoch konnten die meisten schon aufgestanden sein und sich warm machen.
Vor den Schlafzelten, wo er ein paar seiner Männer sah, die umständlich in ihre Stiefel stiegen und sie gewissenhaft, als schauten sie durch eine Lupe, zuschnürten, blieb er stehen. Man konnte annehmen, er suche jemanden, mustere das Camp wie seine Männer ihre Stiefel, wie durch ein Fernrohr, das nicht funktionierte.
Es würde gut sein, jetzt zu Fuß weiter zu gehen, immer weiter hinaus, kaltblütig, auf alles gefasst, nur auf sich gestellt, so wie er einmal begonnen hatte. Kurz dachte er an das gestrige Scharmützel. Stärkte es ihm nicht den Rücken? Hatte es ihn nicht sofort in die notwendige Stimmung versetzt? Ihm fiel ein, dass Malvet ihm Hilfe versprochen hatte, wenn er sie brauchte. Das kam nicht infrage.
Malvet war abgelenkt, spielte noch Doktor. Eine Gruppe Traumatisierter in blauen Kitteln, verließ hinter ihr das Haus und blinzelte ins Licht. Viele von ihnen waren verschüttet gewesen oder den Ungläubigen in die Hände gefallen.
Malvet hob die Hand, um Orin zu winken, und etwas blinkte zwischen ihren Fingern wie ein spitzes Messer, eine Spritze. Sie rief einige Worte, die Orin nicht verstehen konnte, weil sie sich wieder von ihm wegdrehte. Die Leute umringten sie, jeder schien etwas von ihr zu wollen. Malvet war nicht imstande, mit den Kranken zu reden, diese redeten mit ihr. Nach einer Weile kamen sie aber der Aufforderung nach, sich ordentlich aufzustellen, wie sie es Orin zuliebe am Vortag getan hatten. Es war wohl eine Impfung, die sie erhalten sollten.
Er gab seinen Leuten das Zeichen, sich zum Abmarsch bereit zu halten, und Malvet widmete sich der Gruppe, die entlassen werden sollte. Der Mann vor ihr wollte von ihr wissen, wohin er nun gehen sollte, eine Gestalt, die sich nur mühsam aufrecht halten konnte. Sie solle endlich sagen, was mit den Entlassenen geschehen würde, grollte er, alle wollten das wissen. Malvet schien tatsächlich ein wenig in die Enge getrieben oder schlecht gelaunt. Sie antwortete, sie habe doch schon mehrmals darauf hin gewiesen, dass ein Laster unterwegs sei, der würde sie in absehbarer Zeit abholen. Der Kranke tastete über die Stelle, wo die Spritze eingedrungen war, und zog eine Grimasse. Während er den Ärmel seines Hemdes herunter rollte, trat er unruhig von einem Fuß auf den anderen. Dabei gab er den Blick auf die junge Frau hinter ihm frei, die umständlich oder gewissenhaft, ähnlich wie Orins Leute ihre Stiefel geschnürt hatten, ihren Arm freimachte. Es dauerte, sie bekam den Stoff nicht über den Ellbogen, dann aber sah man, dass ihr schmaler Arm einen hellen Reif trug, wie eine Narbe. Ihr Gesicht war Orin unbekannt.
Sie sagte zu Malvet, du hast einen Namen, der mir gefällt. Ich habe gehört, wie jemand dich rief.
Malvet schien sich, nachdem der Mann mit der insistierenden Frage verschwunden war, wieder in der Gewalt zu haben. Sie sah auf das Schildchen am Hemd der Traumatisierten, die nun an der Reihe war, und meinte, der Name Viola sei ebenso schön wie ihr eigener.
Orin hatte noch etwas zu seiner Kollegin sagen wollen, da sah er sie schon nicht mehr.